Essays von Perry Anderson
Die indische Ideologie
Der britische Historiker Perry Anderson hat in den vergangenen Jahren das indische politische System einer kritischen Betrachtung unterzogen. Seine Essays sind nun in einem Buch mit dem Titel "Die indische Ideologie" auf Deutsch erschienen.
8. April 2017, 21:58
Perry Anderson zeichnet in diesem Buch ein äußerst negatives Bild von Indien. Das beginnt beim Freiheitskampf und zieht sich nahtlos bis in die Gegenwart durch. Der große Freiheitskämpfer Mahatma Gandhi, Jawaharlal Nehru, der erste Premierminister des unabhängigen Indien, und seine Nachfolger in der Nehru-Gandhi-Dynastie, der indische Nationalkongress, der den Subkontinent in die Unabhängigkeit von den Briten führte, sich dann in Kongresspartei umbenannte und Jahrzehnte lang die indische Politik beherrschte, sowie die indische Demokratie insgesamt können Perry Andersons prüfendem Blick nicht standhalten.
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Die politischen Übel, die wohlmeinende Patrioten beklagen, sind keine erst kürzlich aufgetretenen Erkrankungen eines einst gesunden Systems. Sie leiten sich von seiner ursprünglichen Konstruktion her.
So urteilt Perry Anderson, und man fragt sich: Welches ehemals kolonisierte Land konnte bei seiner Unabhängigkeit ein gesundes System aufweisen? An einer Stelle äußert Perry den Wunsch, dass die Kongresspartei sich einfach für immer auflösen würde.
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Das wäre das schönste Geschenk, das die indische Demokratie sich selbst machen könnte.
An anderer Stelle bringt er eine Koalition zwischen den einzigen wirklich nationalen Parteien - der Kongresspartei und der Indischen Volkspartei (BJP) - ins Spiel.
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Freundliche Beobachter im Ausland geben gelegentlich der Hoffnung Ausdruck; eine große Koalition möge doch die beiden stärksten Parteien im Dienste eines Reformschubs vereinen, damit das Land eine - nach Washingtoner oder Brüsseler Verständnis - normale Modernität erreiche, aber die raison d'être beider Parteien verbietet ihnen das.
Eigener Weg in die eigene Moderne
Allein die Erwartung, dass Indien eine nach westlichen Kriterien definierte "normale" Modernität erreichen würde, mutet seltsam an. Längst ist in der Wissenschaft von Modernitäten im Plural die Rede, und es steht fest, dass die Länder der außereuropäischen Welt schon aus historischen und gesellschaftspolitischen Gründen sich ihre eigenen Wege in ihre eigene Moderne bahnen müssen. Indien wird allerdings nicht einmal seinen eigenen Ansprüchen gerecht, wie Perry Anderson in markanten und oft auch bösartigen Formulierungen darlegt.
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Wie steht es mit dem Anspruch der "Idee Indiens", dessen, was man auch die indische Ideologie nennen könnte - den dreieinigen Worten von "Demokratie", "Säkularität" und "Einheit"?
Es steht - Perry Anderson zufolge - miserabel.
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Das Kastenwesen ist immer noch eine der reinsten Negationen aller Ideen von Freiheit und Gleichheit und insbesondere von Brüderlichkeit, die man sich nur vorstellen kann.
Fest verankertes Kastensystem
Die Fakten, die Perry Anderson hier anführt, stimmen und lassen sich einfach nicht leugnen. Armut, Not, soziale Missstände und kastenbedingte Konflikte kennzeichnen bis heute die indische Realität. Was Anderson verabsäumt, ist eine genauere Analyse, wie Demokratie und Kastensystem zusammen wirken, wo sozialer Wandel geschehen ist und wo er wie und aus welchen Gründen gescheitert ist. Man mag das Kastensystem noch so sehr verabscheuen, Faktum ist, dass es bei der Unabhängigkeit Indiens 1947 fest verankert war und es eine Illusion gewesen wäre zu glauben, man könnte es einfach kurzfristig überwinden. Mehr Analyse statt negativer Bescheide wäre auch bei der Frage Religion und Politik hilfreich gewesen.
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Der Staat ist nicht ostentativ religiös, im Gegenteil, es ist ständig die Rede von seinen säkularistischen Idealen; doch in seiner Zusammensetzung und seiner Praxis stützt er sich ganz auf den hinduistischen Bevölkerungsanteil. Der Säkularismus ist eine ambivalente Angelegenheit, aber die Einheit der Nation und des ihr gehörenden Landes ist unantastbar geworden.
Penibel zählt Perry Anderson alle Fehler und Versäumnisse seit den 1940er Jahren auf. Im Bemühen um seine Einheit hat der indische Staat zunächst nur mit Hilfe seiner Truppen die Region Hyderabad in den neuen Staat integrieren können. Später hat sich der Staat massiver Gewaltanwendung und Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht, um Freiheitsbestrebungen in Kaschmir, im Punjab und in den von zahlreichen ethnischen Minderheiten bewohnten nordöstlichen Bundesstaaten zu unterdrücken.
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Der Blutzoll der Besetzungen gehört nicht in die fromme Liturgie der "drei Grundwerte".
Immerhin erkennt Perry Anderson Folgendes an:
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Dasselbe ließe sich natürlich von vielen Staaten sagen, die einst Kolonien waren (nicht zuletzt von den USA selbst, wo der Preis an Menschenleben, der für die territoriale Integrität bezahlt wurde, sehr viel höher war).
Der Autor gibt zu, dass auch zahlreiche renommierte indische Wissenschaftler und Intellektuelle nahezu alle negativen Seiten ihres Landes schonungslos aufzeigen. Zugleich spart er nicht mit Spott und Hohn für jene, die trotzdem noch immer etwas Besonderes an der indischen Demokratie sehen wollen. Das lässt sich wohl auf einen wesentlichen Unterschied zwischen Perry Anderson und den indischen Intellektuellen zurückführen: Letztere sind sich dessen bewusst, dass die "indische Ideologie", wie Anderson sie nennt - also das Bekenntnis zu Demokratie, Säkularismus und Einheit - von Anbeginn an ein äußerst hoher Anspruch - und keine Beschreibung der Realität - war. Dieser Anspruch besteht weiterhin, er ist die Messlatte für ein reales politisches Geschehen, das oft weit davon abdriftet.
Service
Perry Anderson, "Die indische Ideologie", Essays, aus dem Englischen übersetzt von Joachim Kalka, Berenberg Verlag