Eine Biografie
Jürgen Habermas
Am 18. Juni wurde Jürgen Habermas 85 Jahre alt. Oskar Negt berichtet, Habermas habe sich seine Mitarbeiter als "Widerspruchsassistenten ausgewählt", und er habe Tag und Nacht mit ihm diskutieren müssen. Habermas erhielt unzählige Preise und Auszeichnungen; u. a. 2006 den Bruno Kreisky Preis.
8. April 2017, 21:58
Das eigentlich Interessante an der Figur Jürgen Habermas - so könnte man sagen - ist ihr langes öffentliches Leben. Dass es einem trockenen Philosophen gelingt, über mehr als sechs Jahrzehnte hinweg publizistisch zu intervenieren ohne aus der Zeit zu fallen, ohne sein Niveau zu verlieren und ohne komplett konservativ zu werden, das ist beeindruckend.
85 Jahre sind eine Menge Stoff. Für die vorliegende Biografie hat der Soziologe Stefan Müller-Doohm eine unglaubliche Fülle an Materialien zusammen getragen. Er arbeitet als genauer Chronist, und er verwebt die Beschreibung des Werkes von Habermas mit der politischen Entwicklung Deutschlands. Hier wird anhand eines philosophischen Lebenslaufs auch die Geschichte der Bundesrepublik erzählt.
Ein kritischer Intellektueller
1929 geboren, ist Habermas Teil der sogenannten "Flakhelfer-Generation", deren frühe Jugend in die Zeit des Nationalsozialismus fiel. Diese Generation konnte aber das Glück haben, sich biografisch nicht zu tief zu verstricken. Nach den Erfahrungen des Kriegsendes ist für den jungen Habermas jedenfalls klar: Man muss sich der Schuld stellen und sich engagieren.
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Habermas wird zwei Wege einschlagen: (...) Er wird sich als vehementer Kritiker an jedweder Form von Blindheit gegenüber dem exponieren, was die Nazis allem, was Menschenantlitz trägt, angetan haben. Der andere Weg ist der einer rückhaltlosen Identifikation mit der Idee der Demokratie.
Habermas begreift sich fortan nicht nur als Wissenschaftler, sondern immer auch als kritischen Intellektuellen.
1953 verfasst er - als noch frischer Philosophiedoktorand - seinen ersten publizistischen Aufreger. In der angesehenen "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" kritisiert er die Neuauflage einer nazitümelnden Vorlesung von Martin Heidegger, die so tut, als sei seit 1935 nichts geschehen.
Kritik von links und rechts
Habermas macht eine steile akademische Karriere. Er wird Assistent am Frankfurter Institut für Sozialforschung bei Theodor Adorno, Professor in Heidelberg, dann in Frankfurt, dann Direktor des renommierten Max-Planck-Instituts in Starnberg bei München. Schließlich wird er mit unzähligen Preisen für sein Werk geehrt. Sein Leben ist aber auch immer eines der politischen Kämpfe, denn Habermas ist zwar ein Linker, aber kein Revolutionär. Wie ein Punchingball muss er daher von beiden Seiten - links wie rechts - Schläge einstecken. Das galt vor allem in Zeiten der Studentenbewegung.
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Sein Engagement sowohl als bekennender Teil wie auch als Kritiker der 68er-Bewegung brachte ihm Gegnerschaften in fast allen politischen Lagern. Samthandschuhe waren dabei seine Sache nicht, noch die seiner Gegner. Er ist, wie er ganz offen von sich selbst sagt, ein "polemisches Talent", und diese Begabung nutzt er weidlich, zumal in Zeiten, in denen die Deutungskämpfe über das demokratische Selbstverständnis dieses Landes, wie er rückblickend urteilt, "unter unfriedlichen Prämissen geführt worden" sind.
Polemisches Talent zeigt Habermas in der Tat. Müller-Doohms Biografie macht Lust, vor allem Habermas' kleine politischen Schriften wieder zu lesen. Die feine aber harte Linie verläuft zwischen "linksliberal" und "liberalkonservativ". Mit den Liberalkonservativen in Deutschland liefert sich Habermas zeitlebens die harten, hinreißend polemischen Gefechte.
Wahrheit entsteht im Dialog
Der archimedische Punkt für das Denken von Habermas ist aber die Idee "kommunikativer Vernunft". Sprache hat einen rationalen Kern, sie ist vernünftig, weil sie auf Verständigung hin angelegt ist: Das ist Habermas' tiefe, philosophische Überzeugung. Wahrheit ist daher nicht relativ, sie entsteht im Dialog und im öffentlichen Diskurs gleichberechtigter Partner.
Hier verbinden sich Philosophie und Politik auf enge Weise, denn Habermas' philosophische Überzeugung hat Konsequenzen für seine Auffassung von Demokratie, von Rechtsstaatlichkeit, aber auch von der nötigen politischen Verfassung Europas. Habermas argumentiert immer im Sinne der möglichen Beteiligung aller am Gemeinwesen und als klarer Demokrat:
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Nach Habermas hat linke Politik gegenwärtig zwei große Ziele: politische Partizipation zu maximieren, Ausbeutung und Entrechtung zu minimieren.
Der "zwanglose Zwang des besseren Arguments"
Vom "Posititivismusstreit" Anfang der 1960er Jahre über die Studentenbewegung, die Friedensbewegung in den 1980ern bis hin zu Diskussionen über Bioethik und die Rolle der Religion nach dem 11. September 2001, nicht zu vergessen die Europa-Verfassungsdebatten: Immer war Habermas dabei. Sein theoretisches Werk ist zwar nicht einfach zu verstehen, aber stets sucht Habermas den öffentlichen Widerstreit, weil sich nur so die Dinge klären; er glaubt an den "zwanglosen Zwang des besseren Arguments".
Stephan Müller-Doohms monumentale Biografie führt mit ihren vielen Zitaten aus Zeitungsartikeln, Aufsätzen, Reden und Büchern vor, auf welch hohem intellektuellen Niveau gesellschaftliche Debatten stattfinden können. Auch wenn die Beschreibung manchmal zu detailliert ausfällt, verwebt Müller-Doohm doch alle Erzählstränge so geschickt miteinander, dass sich ein gut lesbares, homogenes Ganzes ergibt.
Diese Biografie ist allerdings - das muss man hinzufügen - eine sehr deutsche Geschichte. Wer die Nachkriegsentwicklung der Bundesrepublik miterlebte oder auch das Personalkarussell der deutschen Medien-, Philosophie- und Soziologenszene kennt, dem beschert das Buch etliche Wiedererkennungseffekte. Für alle, die es nicht so genau wissen wollen, reicht vielleicht auch die Kurz-Version der Habermas-Biografie, die Müller-Doohm schon vor einigen Jahren herausgebracht hat.
Service
Stefan Müller-Doohm, "Jürgen Habermas. Eine Biografie", Suhrkamp
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