Bauwerk und Machtzentrum Russlands
Der Kreml
Der Kreml ist seit Jahrhunderten das Zentrum der russischen Macht und das Symbol der russischen Nation. In Buchtiteln, in Medienberichten und in der Alltagssprache steht "Der Kreml" häufig als Kürzel für die russischen Machthaber und die russische Politik mit all ihren Intrigen, Machtkämpfen und Undurchsichtigkeiten. Die renommierte britische Historikerin Catherine Merridale hat nun ein Werk herausgebracht, das nun auch auf Deutsch erschienen ist.
8. April 2017, 21:58
Catherine Merridale merkt man die Begeisterung für ihr Thema sofort an. Begeisterung - und Hartnäckigkeit - sind auch nötig, wenn man zum Thema "Der Kreml" so umfassend forschen will, wie die britische Russland-Spezialistin es getan hat. Die der allgemeinen Öffentlichkeit und den Touristen zugänglichen Gebäude zu besuchen, ist kein Problem. Man kauft sich einfach eine Eintrittskarte.
"Den Kreml zu Forschungszwecken zu betreten, ist aber etwas ganz anderes", erzählt sie. "Ich musste zwei Jahre lang Ansuchen stellen und Gespräche führen, bis ich schließlich einen Benutzerausweis für die Bibliothek erhielt. Es war so ein wunderbarer Tag. Sobald ich einmal in der Bibliothek arbeitete, hätte das Personal nicht liebenswürdiger sein können. Das ist oft in Russland der Fall. Das Schwierigste ist es, über die Türschwelle gelassen zu werden."
"Die rote Festung"
Bibliotheken, Archive, Museen sowie ehemals in Moskau stationierte Diplomaten sind nur einige der Quellen, die Catherine Merridale im Zuge ihrer Recherchen in Russland, Europa und den USA herangezogen hat. Was ihren Zugang von anderen unterscheidet, ist die Betrachtung des Kremls sowohl als architektonischer Komplex wie auch als Institution, als politische Bühne und als oft geheimnisumwitterter Träger von Symbolen und Mythen.
Der englische Originaltitel des Buches "The Red Fortress: The Secret Heart of Russia's History", also "Die rote Festung: Das geheime Herz der russischen Geschichte", bringt diesen Ansatz wesentlich besser zum Ausdruck als der nüchterne Titel, der für die deutsche Übersetzung gewählt wurde.
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Von den Kirchen und abweisenden Toren bis hin zu den charakteristischen vertrauten Turmspitzen ist der Kreml nicht bloß der Wohnsitz der russischen Herrscher. Er ist auch ein Theater und ein Text, eine Galerie, welche die aktuelle Regierungspolitik zur Schau stellt und verkörpert. Dies - und die Inkongruenz seines Überlebens im Kern des modernen Moskau - ist seit langem das Geheimnis seiner Ausstrahlung.
Von den Anfängen bis heute
Auf 600 spannend geschriebenen Seiten zeichnet Catherine Merridale nach, welche Rolle der Kreml von den Anfängen der russischen Geschichte an gespielt hat und bis zur aktuellen Herrschaft von Wladimir Putin weiterhin spielt. Der Kreml ist einzigartig, ist Catherine Merridale überzeugt:
"Jeder Ort, mit dem man ihn vergleichen wollte, müsste folgende wichtige Merkmale aufweisen: Er müsste seit sehr langer Zeit ein Sitz sowohl der religiösen als auch politischen Macht sein. Da kommt nur der Vatikan in Frage, das Zentrum einer Weltreligion und ein Zentrum politischer Macht, wenn auch in viel bescheidenerem Ausmaß. Wie der Kreml verfügt auch der Vatikan über prächtige Gebäude, reiche Kunstschätze und Museen, einen reichhaltigen Fundus an historischen Dokumenten und eine faszinierende Geschichte."
Zentrum der Macht
Die Anfänge des Kreml liegen dennoch im Dunkeln. Es gibt keine verlässlichen Unterlagen über die Ursprünge der Festung, die lange lediglich ein Außenposten im Herrschaftsbereich der Rurikiden blieb. Den Rurikiden diente zunächst Kiew und dann Wladimir als Zentrum, bevor sich im 14. Jahrhundert das Zentrum der Macht nach Moskau verlagerte.
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In den Chroniken, also den wichtigsten schriftlichen Quellen für die Periode, wird 1147 und wiederum 1156 eine Fürstenresidenz in Moskau erwähnt, aber niemand weiß genau, wer als Erstes etwas Festungsähnliches auf dem Hügel über den Flüssen Moskwa und Neglinnaja errichtete. Die Daten werden angefochten, obwohl sich die Existenz einer Mauer aus dem 12. Jahrhundert bestätigt hat.
1147 gilt auf jeden Fall als das Gründungsjahr Moskaus. Vom Kreml in seiner heutigen Form war damals natürlich noch keine Rede. Holz und Lehm waren lange die benutzten Baumaterialien. Erst im 14. Jahrhundert wurde der Moskauer Kreml auch zu einem religiösen Zentrum. Doch, schriebt Catherine Merridale, "der Mythos, nicht die verworrene und trübe Wahrheit, sollte zum Eckstein der Kreml-Politik werden".
Symbol der Kontinuität
Brände, Kriege, Bürgerkriege und das Aussterben von Dynastien prägen die frühe Geschichte des Kremls.
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Aber es waren Kirchenschreiber, welche die Geschichte zu Papier brachten. Für sie sollte alles auf ein gesegnetes Ende hindeuten, und die Kremlgebäude, so schlicht sie zu ihrer Zeit auch gewesen sein mochten, wurden nachträglich mit Majestät ausgestattet. Keines der neuen Religionshäuser war anfangs allzu prächtig, doch letzten Endes sollten sie herrlich werden, und so haben ihre Geschichten eine kraftvolle Unvermeidlichkeit erworben. Doch das ist eine bewusste Illusion.
Unabhängig davon, was tatsächlich im Moskauer Großfürstentum, dann später im Zarenreich, in der Sowjetunion oder im heutigen Russland passierte und passiert - und dazu gehören grundlegende Veränderungen, Revolution und Zerstörung - der Kreml sollte für Kontinuität stehen. Catherine Merridale stellte bald fest, dass der Gedanke einer vorherbestimmten Kontinuität sehr alt war:
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Auch verstand ich, wie die vertrauten Geschichten ersonnen wurden. Seien es Mönche und Hofschreiber oder Sowjetpropagandisten und Putins bevorzugte Lehrbuchautoren - nichts ist ungewöhnlich daran, dass russische Höflinge ganze Kapitel der Vergangenheit umschreiben.
Fiktionen und Mythen
Catherine Merridale zeigt auf, wie Fakten von Fiktionen und Mythen überlagert oder verdrängt werden, wie Zeremonien und Rituale dazu dienen, diese Fiktionen und Mythen aufrecht zu erhalten und zu stärken, wie die architektonische Aus- und Umgestaltung des Kreml diesen Mythen dienen soll. Das gilt auch für das Regime Putin.
"Der Kreml hat an Glamour gewonnen", meint Merridale. "Man kann ihn praktisch täglich im Fernsehen sehen, denn Putin beherrscht das russische Fernsehen. Man kann Putin häufig in seinem Büro oder in einer der großen Hallen des Kreml sehen. Diese Bilder vermitteln den russischen Fernsehzuschauern: Das ist unser Präsident, er ist ein bedeutender Mann, und er befindet sich an einem bedeutenden Ort. Die Amtseinführung des Präsidenten findet im Kreml statt, und der Kreml ist geradezu das Gütesiegel dafür, dass der Präsident der richtige Mann für dieses Amt ist."
Nichts von alledem ist unvermeidbar, nichts musste oder muss zwingend so sein. Es ist bewusst gemachte Geschichte und ebenso bewusste Geschichtsdeutung und Geschichtsverzerrung: Das hervorzuheben, ist Catherine Merridale ein großes Anliegen.
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Die Botschaft war und ist kraftvoll, aber sie wurde stets von realen Menschen formuliert, nicht durch steinerne Gesetzestafeln übermittelt, und das Hauptziel der Herrscher besteht allemal darin, an der Macht zu bleiben. Die heutige Glorifizierung des russischen Staates beruht, wie jene früherer Regime, auf einer bewussten, kalkulierten Entscheidung, und reale Menschen können dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Dies mag sich nicht wie eine heitere Schlussfolgerung anhören, aber letzten Endes könnte sie befreiend sein.
Service
Catherine Merridale, "Der Kreml. Eine neue Geschichte Russlands", aus dem Englischen übersetzt von Bernd Rullkötter, S. Fischer Verlag