Dollfuß, die Nazis und der 25. Juli 1934
Hitlers zweiter Putsch
Am 25. Juli 1934, kurz vor 13 Uhr, besetzen Angehörige der "SS-Standarte 89", als Soldaten des österreichischen Bundesheers adjustiert, das Kanzleramt in Wien. Dort hält der Ministerrat des autoritären Ständestaats seine letzte Sitzung vor den Sommerferien ab, die meisten Regierungsmitglieder, vor einem drohenden NS-Putsch gewarnt, haben das Gebäude allerdings bereits verlassen.
8. April 2017, 21:58
Die aufständischen Nationalsozialisten bringen die im Haus verbliebenen Regierungsmitglieder in ihre Gewalt, Kanzler Dollfuß wird bei einem Handgemenge von einem tödlichen Schuss getroffen.
Ungefähr zur gleichen Zeit stürmt ein SS-Kommando das Gebäude der österreichischen Rundfunkanstalt RAVAG in der Wiener Johannesgasse. Der Radiosprecher Theo Ehrenberg, selbst illegaler Nationalsozialist - was die Putschisten allerdings nicht wissen - wird mit vorgehaltener Waffe zum Verlesen einer Sondermeldung gezwungen. Inhalt der Meldung: Die Regierung Dollfuß habe demissioniert, Anton Rintelen, Vertreter des rechten Flügels der christlich-sozialen Partei und notorischer Verbindungsmann zu den Nationalsozialisten, habe die Amtsgeschäfte übernommen.
Blutige Kämpfe
Diese Rundfunkdurchsage ist für Tausende SA-Männer in den Bundesländern das Zeichen, einen bewaffneten Aufstand gegen das austrofaschistische Regime vom Zaun zu brechen. Gendarmerieposten und Bezirkshauptmannschaften, Bezirksgerichte und Fernmeldeämter werden von den Nazis besetzt, vor allem in Kärnten und der Steiermark, aber auch in Teilen Salzburgs und Oberösterreichs kommt es zum Teil zu blutigen Kämpfen.
Die Nationalsozialisten verhaften politische Gegner und liefern sich opferreiche Scharmützel mit Bundesheer und dem Dollfuß-treuen Heimatschutz. Städte wie Radkersburg und Mureck sind eine Zeitlang fest in nationalsozialistischer Hand. Insgesamt kommen bei den Kämpfen im Juli 1934 220 Menschen zu Tode, mehrere hundert werden verwundet. Der Putsch scheitert, das austrofaschistische Regime, jetzt unter Bundeskanzler Schuschnigg, kann seine prekäre Macht für einige Zeit stabilisieren.
Von Hitler befohlen?
Der Historiker Kurt Bauer - er hat bereits 2003 ein vielbeachtetes Standardwerk über den Juliputsch vorgelegt - ist einer der besten Kenner der Materie. In seinem aktuellen Buch zieht der 53-Jährige die Summe seiner eineinhalb Jahrzehnte dauernden Forschungen zum Thema. Bauers zentrale These lässt aufhorchen: Adolf Hitler persönlich, so versucht der Historiker nachzuweisen, war der auslösende und bestimmende Faktor des Juliputschs:
"Im Unterschied zur bisherigen Forschungsmeinung bin ich zu der Auffassung gelangt, dass Hitler diesen Putsch nicht nur unterstützt oder von ihm gewusst hat, sondern dass er ihn ganz definitv befohlen hat. Das ist wirklich neu in der Forschung, und das lässt sich, würde ich meinen, aufgrund einer lückenlosen Indizienkette nachweisen."
Damit widerspricht Kurt Bauer Historikern wie Ian Kershaw und Gerhard Jagschitz, die von so etwas wie einer "passiven Zustimmung" Hitlers ausgegangen sind. Der Juliputsch war dieser Lesart zufolge vor allem eine Initiative österreichischer Nationalsozialisten. Hitler selbst - er weilte während der dramatischen Ereignisse in Bayreuth -, habe von den Umsturzplänen zwar gewusst, sei aber nicht die treibende Kraft dahinter gewesen.
Hitler wollte Neuwahlen
Nach genauem Quellenstudium und der pedantischen Rekonstruktion der Ereignisse kommt Kurt Bauer zu einem anderen Befund: Nach einem Treffen mit Mussolini Mitte Juni 1934 habe Hitler zwei folgenschwere Entscheidungen gefällt, postuliert Bauer: zum einen die Entmachtung der SA durch den Massenmord an Ernst Röhm und anderen SA-Führern, zum anderen den gewaltsamen Sturz der Regierung Dollfuß in Wien. Welche Ziele aber verfolgte die Reichsregierung in Berlin mit dem geplanten Umsturz? Was hätte der Juliputsch bewirken sollen?
"Hitler wollte 1934 defintiv keinen Anschluss", meint Kurt Bauer. "Er wusste, dass er das zu diesem Zeitpunkt noch nicht realisieren konnte, weil Deutschland militärisch noch zu schwach war. Was Hitler wollte, war eine Art Neutralisierung." Dem deutschen Diktator schwebte eine willfährige Regierung auf dem Wiener Ballhausplatz vor, ein Satrapenregime, das seine Politik eng mit dem nationalsozialistischen Deutschland akkordierte.
"Hitler wollte eine Regierung ohne Dollfuß, mit einem neuen Kanzler, er wollte Neuwahlen, was aber ziemlich sicher nicht so ausgesehen hätte, dass die Sozialdemokratie wieder zugelassen worden wäre", so Kurt Bauer. "Er wollte Neuwahlen und eine Besetzung der Regierung nach den jeweiligen Stärken, die bei diesen Wahlen erzielt worden wären. Das hätte wahrscheinlich eine Koalitionsregierung aus Christlich-Sozialen und Nationalsozialisten bedeuten, vermutlich unter Heimwehrbeteiligung."
Pleiten, Pech und Pannen
Der Juliputsch war von Anfang an auch ein Putsch der Peinlichkeiten und der Pannen. Kurt Bauer arbeitet das in seinem Buch auf einprägsame Weise heraus. Österreichs Nationalsozialisten - von München aus befehligt - gingen die Sache stümperhaft an:
SS-Standartenführer Fridolin Glass, der militärische Kopf des Putschs, verpasste die Abfahrt der Umstürzler von der Jahnschen Turnhalle in der Siebensterngasse aus, wodurch der Umsturzversuch von Anfang an führerlos war; die geplante Verhaftung des Bundespräsidenten Wilhelm Miklas in seinem Urlaubsort in Velden am Wörthersee scheiterte am Unvermögen des dreiköpfigen SS-Kommandos, das die Verhaftung vornehmen sollte: Man reiste mit einem Mietwagen samt Chauffeur aus Wien an, zwei der drei Putschisten wurden bereits bei ihrer Ankunft in Klagenfurt verhaftet, nachdem der Mietwagenverleiher, dem die Sache verdächtig vorgekommen war, das Trio angezeigt hatte.
Außerdem - und das ist wenig bekannt - war zeitgleich mit dem gescheiterten Staatsstreich durch die SS-Standarte 89 noch ein anderer Umsturzversuch geplant: Angehörige der SS-Standarte 11 postierten sich um die Mittagsstunde des 25. Juli 1934 auf dem Michaelerplatz in Wien, um ein Handgranaten-Attentat auf Dollfuß durchzuführen - ohne, dass sie vom Putschversuch der anderen SS-Standarte etwas gewusst hätten.
Pleiten, Pech und Pannen - so könnte man das Tagesmotto allerdings auch auf Regierungsseite beschreiben. Obwohl die ständestaatlichen Machthaber durch einen Verräter aus den Reihen der Umstürzler vor dem Putschversuch durch die SS gewarnt worden war, zeigten sich die österreichischen Sicherheitsbehörden nicht in der Lage, das Kanzleramt und den Kanzler vor den Putschisten zu schützen. "Es war definitiv ein Putsch der Pannen", sagt Kurt Bauer.
Dollfuß' Tod nicht vorgesehen
Und Dollfuß' Tod? Schon wenige Stunden nach dem Scheitern des Putschs erhob die Propaganda des Ständestaats den Kanzler zum "Märtyrer für Österreichs Freiheit". Anders als vom Schuschnigg-Regime dargestellt, war es Kurt Bauers Recherchen zufolge allerdings kein vorsätzlicher Mord, dem Dollfuß zum Opfer gefallen ist: "Der Tod von Dollfuß war kein Mord im juristischen Sinn, sondern es war ein Unfall, ein Unglücksfall."
Der Kanzler scheint den bewaffneten SS-Putschisten Otto Planetta angegriffen oder sich an ihm vorbeigedrängt zu haben, um durch eine rettende Tür zu entkommen; dabei dürften sich zwei Schüsse gelöst haben, ein eher harmloser und ein tödlicher durch den Hals, der den siebten Halswirbel des Kanzlers durchschlug und die rechte Brusthöhle öffnete.
"Meinen Forschungen nach war es vonseiten der Nationalsozialisten aus überhaupt nicht beabsichtigt, Dollfuß zu töten", sagt Kurt Bauer. "Es war im Plan der Putschisten vorgesehen, die Regierung Dollfuß, wie es hieß, 'in Ehren' kaltzustellen. Ich bin sogar der Überzeugung, dass der Putsch hauptsächlich deshalb misslungen ist, weil Dollfuß gestorben ist. Also, die wichtigste Geisel und der Einzige, auf den es in diesem autoritären Staat ankam, das war eben Dollfuß, und mit Dollfuß war alles weggefallen, was die Putschisten überhaupt in der Hand hatten."
Fundierte Recherchen
Kurt Bauer hat ein beeindruckendes Buch vorgelegt, historiographisch fundiert und erzählerisch stringent, lässt der Wiener Historiker die schicksalsschweren Ereignisse des Juli 34 noch einmal Revue passieren. Als Leser verliert man keine Sekunde lang den Überblick über die verworrenen Ereignisse, obwohl die Personnage mit etwa hundert zentralen Protagonisten doch einigermaßen unübersichtlich ist.
Der Band überzeugt aber nicht nur aus erzählerischer, sondern auch aus wissenschaftlicher Perspektive: Bauer hat an Material herbeigeschafft, was herbeizuschaffen war, Fakten werden als Fakten gewürdigt, Quellen kritisch gewichtet und Hypothesen als solche ausgeschildert. Sollte nicht irgendwann - woher auch immer - spektakuläres, bisher unbekanntes Material auftauchen, darf man behaupten: Kurt Bauer hat das ultimative Buch über den Juliputsch 1934 geschrieben.
Service
Kurt Bauer, "Hitlers zweiter Putsch - Dollfuß, die Nazis und der 25. Juli 1934", Residenz-Verlag