Peter Sloterdijks Zivilisationskritik

Die schrecklichen Kinder der Neuzeit

In seinem Groß-Essay "Die schrecklichen Kinder der Neuzeit" übt Peter Sloterdijk Zivilisationskritik und das linksliberale Justemilieu des deutschen Feuilletons schäumt vor Empörung.

Für den Rezensenten der Berliner "taz" hat sich Sloterdijk mit seinem jüngsten Opus als "vulgärtheologischer Apokalyptiker" mit ultrakonservativer Schlagseite kenntlich gemacht, Georg Diez im "Spiegel" insultiert den Philosophen in einer als Rezension getarnten Polemik als "Reaktionär" und "rechtskonservativen Dimpfl", der "AfD-Wählern und anderen Angehörigen eines verrohten Bürgertums" philosophisches Rüstzeug an die Hand gibt.

Mit Verlaub: die Herren übertreiben. Peter Sloterdijk schreitet auf 480 mit Pointen überfrachteten Seiten zwar zu einer bombastischen Kritik der Moderne - einer Kritik, die von ihrem Grundansatz her nicht überzeugt - eine dezidiert reaktionäre Agenda lässt sich aus diesem Werk allerdings, trotz mancher Anklänge in dieser Richtung, nicht herauslesen. Es sei denn, man läse sie in böswilliger Absicht hinein.

Moderne hält die Welt gefangen

Worum geht es? Sloterdijk definiert die Moderne als eine planetarische, von den Zentren Europas ausgehende Bewegung, die nach zarten Anfängen in Antike und Mittelalter den Erdball seit einigen Jahrhunderten - in einer rasanten, sich unentwegt noch beschleunigenden Dynamik - im Griff hat. Ihr Kennzeichen: der Traditionsbruch, die Tabula rasa, das radikale Kappen historischer Kontinuität, das sich von Generation zu Generation mit elternmörderischer Konsequenz vollzieht.

"Die schrecklichen Kinder der Neuzeit", so nennt Sloterdijk die Protagonisten der Erbschaftsverweigerung, sie sind natürlich allesamt Revolutionäre: Danton und Robespierre, Napoleon Bonaparte, Lenin, Goebbels und Pol Pot, aber auch die Wall-Street-Broker von heute, die sich um überlieferte Traditionen keinen, pardon, Dreck scheren.

Defilee der Tabula-Rasa-Macher

Peter Sloterdijk lässt sie in seinem Groß-Essay alle vorbeidefilieren, die Blutsäufer und notorischen Tabula-Rasa-Macher, die ihre große Stunde beispielweise während der Terreur in Frankreich oder im russischen Bürgerkrieg hatten, die grundstürzenden Gewaltmechaniker der europäischen Geschichte, von Danton bis Lenin:

Und das ist in der Regel eine blutige, um nicht zu sagen eine blutsäuferische Angelegenheit.

Vom systematischen Traditionsbruch

Eine starke anti-genealogische Dynamik sieht Sloterdijk auch in den entfesselten Marktkräften der globalisierten Wirtschaft von heute am Werk. Radikaler Anti-Traditionalismus, das rücksichtslose Niederreißen überlieferter Grenzen, ist ein Kennzeichen des modernen Kapitalismus, Marx- und Engels-Leser wissen das schon seit eineinhalb Jahrhunderten. Für Sloterdijk ist der systematische Traditionsbruch, auch der postmodernen Ökonomie, der archimedische Punkt, von dem aus er die moderne Welt zu erklären versucht.

Dünne Hauptthese im apodiktischen Tonfall

Die Kontinuitätsverweigerung als Charakteristikum der Moderne: Sloterdijk ist nicht der Erste, der sich damit auseinandersetzt. Dass er seine pompöse Kritik am Menschheitsexperiment der Moderne auf ihrer zügellosen Traditionsvergessenheit - und nur auf dieser - aufhängt, vermag allerdings auch den aufgeschlossenen Sloterdijk-Leser nicht zu überzeugen. Als Hauptthese eines 480-seitigen Texts, der die Menschheitsgeschichte von Adam und Eva bis Bretton Woods, von Augustinus bis zum Börsencrash von 2008 zum Thema hat, ist das einfach zu dünn.

Was zudem verstört, ist der apodiktische Tonfall, den Sloterdijk anstimmt. Der Philosoph verkündet seine Wahrheiten aus der Perspektive olympischer Allwissenheit, es ist ein von Zweifeln und Selbstzweifeln unangefochtenes Denken, das sich hier mit zeushafter Attitüde Bahn bricht. In früheren Sloterdijk-Büchern hat das weniger gestört - etwa in seinem Selbstoptimierungs-Bestseller "Du musst dein Leben ändern". Hier aber, wo des Hauptgedankens Blässe immer wieder durchschimmert, wirkt der kategorische Tonfall, in dem Sloterdijk argumentiert, narzisstisch und eigenartig unangebracht.

Ein bisschen mehr Ironie, besser: Selbstironie hätte dem Werk gutgetan. Dann hätte sich Sloterdijk den Vorwurf, er übe reaktionäre Modernekritik, vielleicht erspart. Und ein bisschen Modernekritik ist ja wohl legitim, wenn man sich den Zustand unseres Planeten so vor Augen führt.

Service

Peter Sloterdijk, "Die schrecklichen Kinder der Neuzeit", Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main