Douglas Rushkoff über Gegenwart im digitalen Sog
Present Shock
"Wir wissen zwar nicht mehr, wo es lang geht, aber wir kommen viel schneller voran. Kann ja sein, dass wir mitten in einer existenziellen Krise stecken, aber wir sind viel zu beschäftigt, um es zu bemerken", so beschreibt der US-amerikanische Medientheoretiker Douglas Rushkoff unsere Gegenwart.
8. April 2017, 21:58
Wir haben den Augenblick verloren und befinden uns in einer Art Gegenwartsschock, in einem Jetzt-Schock, meint der Autor in seinem neuen Buch "Present Shock. Wenn alles jetzt passiert". Denn die Technologie, so Rushkoff, habe unser Gefühl für Zeit, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft durcheinandergewirbelt.
Leben in ständiger Ablenkung
Wir sind digital überfordert - attestiert der amerikanische Medientheoretiker Douglas Rushkoff: Wir sind ständig online, leben nur noch in Echtzeit und erleben dank Echtzeittechnologien alles im Liveticker.
Auch das Buchcover strahlt Unruhe aus und zeigt einen Wassersog, in dem ein Schiff und ein kleiner Mensch, der sich hilflos an ein Fass klammert, herum gewirbelt werden. Vielleicht ein Sog, der uns in die unendlichen Weiten des digitalen Universums zieht. Denn Rushkoff äußert eine Sorge, die eher aus der Ecke von Kulturpessimisten kommt: Wir alle würden in einem Zustand ständiger Ablenkung leben, in dem wir das Wichtige nicht mehr vom Unwichtigen unterscheiden könnten.
Zitat
In dem Moment, wo das "Jetzt" wahrgenommen wird, ist es auch schon vorüber. Wie bei gesichtsgelähmten Botox-Junkies, die einer immer kleiner werdenden Schönheitsrendite nachjagen, nimmt uns gerade der Versuch, die Zeit anzuhalten und den Augenblick zu bewahren, unsere Fähigkeit, diesen Augenblick wirklich zu erleben.
Der Versuch, den flüchtigen Moment einzufangen, macht aus unserer Kultur ein einziges entropisches, statisches Rauschen. Erzählstrukturen und Ziele lösen sich auf, und was übrig bleibt sind verzerrte Aufnahmen vom Echten und Unmittelbaren in Form von Tweets und Status-Updates. Was wir im Augenblick tun, wird wichtiger als alles andere - mit verheerenden Folgen.
Wie auf Veränderungen reagieren?
In fünf Kapiteln versucht der amerikanische Medientheoretiker alle Aspekte des Gegenwartschocks zu analysieren und Wege aufzuzeigen, wie wir auf die Veränderungen reagieren sollen, wenngleich wir doch gar keine Zeit haben, darüber nachzudenken.
Ein Kapitel widmet er der Geschichte: Der Geschichte als klassische Form des Erzählens, als Werkzeug unseres Denkens, als Moral- und Wertebibel. Und der Story in Form der "Heldenreise", die man laut Rushkoff zum Beispiel bei Ödipus oder Luke Skywalker findet. Und dann kam die Interaktivität, schreibt Rushkoff und meint: die Fernbedienung habe unser Verhältnis zum Fernsehen tiefgreifender verändert, als jede postmoderne Medienkritik. Denn damit könne man ja einfach wegschalten.
Das dekonstruierte Fernsehen
Zitat
Derart von Nutzern dekonstruiert, verliert das Fernsehen die Fähigkeit, kohärente Geschichten zu erzählen - als wäre die lineare Narration von inkompetenten und manipulativen Erzählern so lange missbraucht und kompromittiert worden, dass sie schließlich aufgehört hat zu funktionieren, besonders bei jungen Zuschauern, die mit den interaktiven Medien vertraut und entsprechend wehrhaft sind.
Die Fernseh-Serie "Die Simpsons" zieht Rushkoff als Beispiel heran: Die gelbe Simpons-Familie aus Springfield liefere zwar satirische selbstreferenzielle Unterhaltung für erzählungsmüden Zuschauer, aber eben nicht mit narrativen Mitteln.
Zitat
Die eigentliche Handlung der Episoden ist dagegen nebensächlich. Nichts steht mehr auf dem Spiel: Figuren sterben oder tun Dinge, die sie nicht überleben würden und tauchen in der nächsten Folge trotzdem wieder auf. Anders als seinem griechischen Namensvetter ist Homer Simpson das Motiv der Heldenfahrt völlig fremd. Er ist in einer unendlichen ausweglosen Gegenwart gefangen, die bleibenden Erkenntnismomente sind allein den Zuschauern vorbehalten.
Die Technik gibt Takt vor
Auch im nächsten Kapitel argumentiert Rushkoff weiter in Richtung Technikdeterminismus: Wenn selbst Google der Meinung ist, dass du an zu vielen Orten gleichzeitig bist, solltest du dir allmählich Sorgen machen, schreibt Rushkoff und meint: die Digitalität prägt unser Zeitempfinden.
Zitat
Indem wir uns von der Technik den Takt vorgeben lassen, vergrößern wir nicht unseren Spielraum, sondern entkoppeln uns von dem, was wir eigentlich tun würden. Blogger verlieren den Kontakt zu ihrem Jagdrevier, weil sie nur noch vor ihrem Bildschirm sitzen und sich online über Themen informieren. Designer orientieren sich bei der Gestaltung ihrer Produkte an der Anrufgeschwindigkeit shoppingbegeisterter Hausfrauen um ein Uhr nachts. Liebende erwarten eine prompte und angemessene Antwort auf jedes SMS, egal wie müde oder überarbeitet (oder betrunken) ihr Partner ist.
Auch dem Thema "Überspanntheit" widmet sich der amerikanische Medientheoretiker in einem großen Teil des Buches und beschreibt den Stress, den uns unsere digitale Umgebung - Twitter, Facebook, Emails - bereitet. Denn jede unerledigte Aufgabe oder jede nicht beantwortete Nachricht bedeute Stress, so Rushkoff.
Zitat
Das E-Mail-Konto ist kein Buch oder Dokument, das man zu Ende lesen könnte. Es ist ein unablässiger Informationsfluss. Natürlich können wir die wichtigeren Nachrichten markieren, Prioritäten setzen und Ablagesysteme entwickeln, das ändert aber nichts an der grundlegenden Tatsache, dass die Entscheidung, überhaupt eine E-Mail-Adresse zu haben, einen laufenden Prozess in unserem Leben in Gang setzt, der uns bis auf weiteres in die Pflicht nimmt. In dem Moment, wo wir eine einzelne E-Mail öffnen, betreten wir wieder das Reich der statischen Information. Auf eine E-Mail zu klicken ist, wie die Büchse der Pandora zu öffnen. Möglicherweise entlädt sich dadurch auf einen Schlag die Arbeit einer ganzen Woche in unsere Gegenwart.
Als Ausweg aus der Jetzt-Falle empfiehlt Rushkoff Geduld, einen bewussten Umgang mit der Zeit und: zwischen durch einmal die Pause-Taste zu drücken.
Service
Douglas Rushkoff, "Present Shock. Wenn alles jetzt passiert", aus dem Amerikanischen von Gesine Schröder und Andy Hahnemann, orange-press, Freiburg 2014