Kriminelles von Roberto Saviana

ZeroZeroZero

Das ist kein Kriminalroman, keine Krimigeschichte, sondern eine ebenso imposante wie erschreckende Sammlung krimineller Geschichten. Vom allerniedrigsten bis zum allerhöchsten Niveau krimineller Energie und Effizienz.

Der Italiener Roberto Saviano ist mit seinen 2006 in Romanform erschienenen Enthüllungen über die Camorra, inzwischen verfilmt und auch zur Fernsehserie adaptiert, weltweit bekannt geworden. Ein Ruhm, auf den er des Öfteren wohl auch verzichten möchte, auch wenn er in Interviews betont, er würde es wieder tun, weil er persönlich von diesem Thema besessen sei. Verzichten, weil Saviano seit acht Jahren nicht viel anders lebt wie ein "pentito", ein Kronzeuge gegen die Mafia. Ständig wechselnde Wohnorte, ständiger, massiver Polizeischutz. Den "Carabinieri meiner Eskorte" hat er auch sein neues Buch gewidmet. Zitat: "Für die 38.000 gemeinsam verbrachten Stunden. Und für die Stunden, die wir noch gemeinsam verbringen werden. Wo auch immer."

Diesmal hat sich der Autor auf gut 500 Seiten jenen Stoff vorgenommen, den er für ökonomisch noch potenter und gefährlicher hält als Erdöl: das "weiße Öl", Kokain. In jahrelangen Recherchen und Gesprächen hat Roberto Saviano alles zusammengetragen, um den Nachweis zu führen, dass die kapitalistische Wirtschaftsordnung in eine neue historische Phase eingetreten ist, in die des Narcokapitalismus. Und so wie die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals gegen Ende des Feudalismus ein außerordentlich gewalttätiger Prozess gewesen ist, so ist dieser globale Wachstums- und Durchdringungsprozess ebenfalls von enormer Brutalität und Kriminalität gekennzeichnet.

Führungskräfteseminar der Mafia

Das ist - sozusagen - die Grundthese von Savianos Analyse, und die Beweise führt er in gewohnter Manier, in einer kunstvollen Mischung aus Roman und Dokumentation, wobei der dokumentarische Charakter der Erzählung hier deutlich überwiegt. Das tut der Spannung keinen Abbruch, im Gegenteil. Von den ersten Seiten an entwickelt dieser Kokainreport einen erzählerischen Sog, dem man sich kaum entziehen kann.

Da wird etwa ein Mafia-Treffen im Hinterzimmer eines New Yorker Restaurants beschrieben, basierend auf dem Mitschnitt eines V-Mannes, dessen Inhalte sich wie ein Managementseminar für allerhöchste Führungskräfte lesen. Nur offener und deutlicher. Vor einer Runde von Mexikanern, Guatemalteken, Albanern, Italienern und Italoamerikanern hält der alte Pate sein Impulsreferat, dem selbstverständlich keine Fragen zu folgen haben.

Zuerst legt er noch Wert auf das historisch-kalabrische Brimborium der N'drangheta, doch sehr bald weicht das Gefasel von Tradition, Religion und Familie dem aktuellen Macht- und Marktkonzept. Eine gerechte Welt sei eine Welt von Schwächlingen. Wer befiehlt, der befiehlt und fertig. Zu respektieren sei nur derjenige, der einem nütze, zu verachten sei jeder, der keinen Wert für einen habe. Familie hin oder her. Statt Gesetzen gelten Regeln der Organisation, und auch die seien - wie der Ehrenkodex - nur dazu da, um über alle anderen zu herrschen. Zitat: "Wenn selbst der Sympathischste von euch mehr Weiber und mehr Geld hat als ich, will ich ihn tot sehen." Und über allem stehe jetzt das Kokain. Kokain bedeute: "All you can see, you can have it".

Wenn man so will, ist dieses Führungskräfteseminar tatsächlich ein solches gewesen, denn der alte italienische Pate sollte den internationalen Nachwuchskräften im Drogengeschäft die "Basics" nahebringen, um so "ein kriminelles Bürgertum zu schaffen, so grausam und gierig wie keine Generation zuvor", schreibt Saviano.

Der Weg der Droge

Station für Station, vom Cocabauern bis zum User, dem Kokser, vom Straßenhändler und dem Promilieferanten bis zu den Killern und Bossen der Drogenkartelle sowie deren Buchhaltern und Finanzspekulanten klappert Roberto Saviano den Weg der Droge ab. Geografischer Schwerpunkt ist naturgemäß Latein- und Mittelamerika, Kolumbien und Mexiko. Die Opferzahlen im Krieg der und gegen die mexikanischen Kartelle bewegen sich vorsichtig geschätzt um die hunderttausend, und die Gewalttaten und Foltermethoden der Banden, die in diesem Buch zwar selten, dann aber im Detail beschrieben werden, sind derartig grauenerregend, dass sie nicht einmal in Splatter-Movies zum Einsatz kommen könnten. Das einzige Problem: Hier wird nicht die Kunst, nicht einmal in ihrer schäbigsten Form verhandelt, sondern die alltägliche Wirklichkeit ganzer Landstriche, ganzer Kontinente.

Saviano rekonstruiert Aufstieg und Niedergang der kolumbianischen Kartelle, beschreibt die Machtübernahme durch die Mexikaner, die ursprünglich nur das Transitland bereitgestellt haben, und er dokumentiert die Verflechtungen mit der europäischen Mafia, insbesondere mit der kalabrischen. Wie und wo das blutige Drogengeld dann gewaschen wird, welche Wirtschaftsbranchen zur Gänze übernommen werden, wie riesig die Aktienpakete sind, die quer über den Globus verschoben werden, bis niemand mehr weiß, woher sie eigentlich stammen, wie Unmengen von Kapital aus dem Kokainhandel das internationale Finanzwesen über die Krisenjahre 2008/2009 retteten, all das ist hier nachzulesen.

Unterminierung der Gesellschaft

In einem sehr persönlichen Nachwort zieht Roberto Saviano Bilanz über seine bisherige schriftstellerische Arbeit und versucht auch Lösungsansätze zur Überwindung des Narcokapitalismus zu finden. Frei nach Nietzsche habe er in den Abgrund geblickt und sei zu einem Ungeheuer geworden. Er habe dem ins Auge geblickt, was der Mensch sei und sehe nun überall Ähnlichkeiten zu dem Abschaum, den er kennengelernt habe. Distanz zu halten sei ihm nicht gelungen, und trotzdem verkündet er wie ein Aufklärer der alten Schule, die Macht des Lesens, des Wissens auch über einen derart monströsen Gegner wie den von ihm beschriebenen. Das narcokapitalistische System selbst werde sich weiter ausbreiten, je schneller sich die Welt drehe, desto mehr Kokain werde es geben. Eine Hochleistungsdroge in einer Hochleistungsgesellschaft.

Um der Gewalt, der Kriminalität und der Unterminierung ganzer Gesellschaften und Zivilisationen durch Drogengelder Einhalt zu gebieten, gebe es nur eine Möglichkeit: die völlige Legalisierung der Drogen, "so fürchterlich es auch klingen mag", fügt Saviano an. Für den aufmerksamen Leser dieses Buchs, das ist noch zu sagen, ist diese Möglichkeit die am wenigsten fürchterliche angesichts der kaum fassbaren Furchtbarkeit des aktuellen Geschehens, nicht nur in Lateinamerika.

Service

Roberto Saviana, "ZeroZeroZero. Wie Kokain die Welt beherrscht", aus dem Italienischen von Rita Seuß und Walter Kögler, Hanser Verlag