Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird

Götter global

In den vergangenen hundert Jahren hat sich die Zahl der Christen in der Welt vervierfacht. Stark gewachsen ist sie in Lateinamerika, einigen asiatischen Ländern sowie in Afrika. Die Zahlen dazu hat der evangelische Systematiker Friedrich Wilhelm Graf für sein Buch "Götter global" zusammengetragen.

Das Christentum hat Konjunktur, auch wenn der Mitgliederschwund vor allem der katholischen Kirche in Deutschland und Österreich etwa das nicht unbedingt vermuten lässt. In den vergangenen hundert Jahren hat sich die Zahl der Christen in der Welt vervierfacht, was natürlich in erster Linie am rasanten Bevölkerungswachstum liegt. Stark gewachsen ist die Zahl der Christen in Lateinamerika, einigen asiatischen Ländern sowie in Afrika. Lebten um 1900 in Afrika zehn Millionen Christen und mehr als dreimal so viele Muslime, so stehen dort heute 317 Millionen Muslime 360 Millionen Christen gegenüber.

Neue unabhängige Kirchen in Afrika

Den traditionellen Kirchen machen dabei sogenannte Independent Churches Konkurrenz, vor allem die diversen Pfingstkirchen. In Nigeria zum Beispiel, mit rund 170 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste Land Afrikas mit 60 Prozent Christen, formierten sich in den vergangenen Jahrzehnten zahllose pfingstlerisch-evangelikale Kirchen mit Namen wie "Winner's Chapel", "Victory Bible Church" oder "World Miracle Church International". Hier wird Religion intensiv gelebt: mit die ganze Nacht dauernden, lauten Gottesdiensten, Bibelschulen, eigenen Radio- und Fernsehstationen, Bekehrungs-"Kreuzzügen" und großen Gebetskongressen. Die charismatischen Prediger dieser Kirchen werden nicht selten wie Popstars gefeiert.

Auch in Ghana sind neue christliche Kirchen entstanden, die mit "prosperity gospels" die Menschen locken, mit Wohlstandspredigten, in denen es um Aufstieg, Besitz und Triumph geht, und wo Lieder angestimmt werden wie "Jesus is a Winner Man". Christen seien geborene Sieger, sie müssten nur fest an ihren Erfolg glauben, dann würde er auch kommen. Die neuen "Health and Wealth Christianities", die mit ihrem Wohlstands- und Wachstumsmantra "anschlussfähig sind an neoliberale Marktideen und einen globalen Kapitalismus", hätten, so Friedrich Wilhelm Graf, "einen religiösen Markt geschaffen", auf dem man selbstbestimmt wählen könne, "je nach Divinalgeschmack".

Gesellschaftlich-politische Sprengkraft

Religionen, nicht nur die christliche, werden immer globaler - und immer stärker vermarktet, stellt Graf fest. Aber wie kommt es, dass die Welt zum Supermarkt der Religionen wurde? Wie ist der Boom der Pfingstchristen und der sogenannten "Kreationistischen Internationale" zu erklären - und wie die wachsende Faszinationskraft fundamentalistischen Hardcore-Glaubens? Warum sind gerade liberale Gesellschaften anfällig für religiösen Fundamentalismus - und wie lässt sich politisierte Religion wieder zivilisieren? Diesen und anderen Fragen geht der Autor in einem faktenreichen, differenziert argumentierendem und daher äußerst anregendem Buch nach, das deutlich macht, dass Religion voll gesellschaftlich-politischer Sprengkraft ist und ihre Globalisierung eine neue Qualität erreicht hat.

Gottesvermarktung

Dass Religions- und Glaubensfragen zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine derart zentrale Rolle spielen würden, hätte man noch vor wenigen Jahrzehnten wohl kaum für möglich gehalten. Doch die liberale Vorstellung, dass Gottesglaube eine private Angelegenheit ist, hat sich als Illusion erwiesen, sagt Graf. Die Religionen sind vielmehr "in neuer Intensität in den öffentlichen Raum zurückgekehrt". Freikirchen, Sekten, Pfingstgemeinschaften und charismatische Gruppen konkurrieren mit den großen Kirchen, allein um die Anhänger christlichen Glaubens buhlen mittlerweile rund 33.000 rechtlich eigenständige Religionsgemeinschaften oder Kirchen. Die Welt wird zum Markt für "global aktive Religionsdienstleister", die mit ihren "Heilsprodukten", "Lebenssinngütern" und "Erlösungsideen" um "Glaubensmarktanteile" streiten und dabei nicht selten, so der Autor, ein "aggressives God-Selling" betreiben.

Sehnsucht nach Orientierung

Die Hinwendung zur Religion hat unterschiedliche Gründe. Da ist zum einen die Sehnsucht nach verbindlichen Orientierungen in einer Welt, die von vielen als schnelllebig, unübersichtlich und irritierend pluralistisch erfahrenen wird. Da ist zum anderen die Suche nach Identität und Zusammengehörigkeit nicht zuletzt bei all jenen, die sich durch Migration heimat- und wurzellos fühlen. Von dem Religionsboom profitieren dabei vor allem zwei Bewegungen, die Graf genauer untersucht: die Pfingstchristen, für die das Werk des Heiligen Geistes zentral und strenge Bibelauslegung verpflichtend ist, und die "Kreationisten", die darwinsche Evolutionstheorie und moderne Naturwissenschaften bekämpfen und Mensch und Universum allein als Werk des Schöpfergottes verstehen. Beides sind "harte" Religionen, die fundamentalistische Glaubenssysteme offerieren.

Individuelles "Sinnbasteln"

Neben der verstärkten Hinwendung zu konservativ-orthodoxen Gruppierungen und Kirchen sieht Graf noch ein weiteres Phänomen, das momentan im Trend liegt: das individuelle "Sinnbasteln", die ganz persönliche Kombination verschiedener Glaubenselemente. Viele Menschen würden sich aus Versatzstücken unterschiedlicher Religionen ihre "höchst private Glaubenswelt" bauen. Graf nennt das "Bricolage".

Religion zivilisieren

In Zeiten erstarkender Religiosität wachsen auch die Religionskonflikte: Konflikte zwischen den Religionen, aber auch solche zwischen Religion und Staat, wie Graf schon in der Einleitung deutlich macht, anhand der Schlagzeilen eines einzigen Tages. Vom Mord aus Glaubenshass ist da die Rede, vom Dauerstreit um Kopftücher, Kirchenkampf um homosexuelle Priester oder Blasphemie durch Burka-Comics. Politisierte Religion führe zu "ganz harten Kulturkämpfen und immer neuem Streit um die Grundlagen der politischen Ordnung", so Graf. Statt eine religiöse Begründung des Staates zu verlangen gelte es, die Religionen zu "zivilisieren", die Begrenzung bzw. Selbstbegrenzung des Glaubens einzufordern und dessen Unbedingtheitsanspruch zu hinterfragen.

Wir sollten uns an das Projekt der Aufklärung erinnern, meint Graf, wenn wir einen Weg finden wollen, wie religiöser Glaube mit einer freiheitlichen politischen Ordnung in Einklang zu bringen ist: statt blindem Religionsgehorsam Recht auf Religionskritik, statt serviler Glaubensknechte mündige, emanzipierte Bürger, statt Allmacht Kontrolle. Gott ist nicht allmächtig und wollte das nie sein, das zeige die christliche Vorstellung von der Inkarnation, der Menschwerdung Gottes, mit der auch "den Machtphantasien der Herrschenden jede theologische Legitimation" entzogen wird, so Graf.

Mit "Götter global" hat Friedrich Wilhelm Graf ein sehr informatives und lesenswertes, eine Fülle von Aspekten berücksichtigendes Buch geschrieben, das auch der Formel vom Heiligen Krieg nachgeht, die Entwicklung der Ökumene kritisch betrachtet und auch der "kultischen Überhöhung des Amtscharismas des Papstes" nichts abgewinnen kann.

Ein Buch, das alles andere als optimistisch schließt: Vieles spreche dafür, dass religiöse Konflikte auch in Zukunft das Weltgeschehen prägen werden, nichts deute darauf hin, dass sich solche Konflikte bald abschwächen könnten. Denn solange Armut und Ungerechtigkeit das Leben vieler Menschen bestimme, bleibe der "wichtigste Identitätsgarant" dieser Menschen nichts anderes als der Gottesglaube. Und der mündet nicht selten in religiösem Fanatismus.

Service

Friedrich Wilhelm Graf, "Götter global. Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird", Verlag C. H. Beck