Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird
Götter global
In den vergangenen hundert Jahren hat sich die Zahl der Christen in der Welt vervierfacht. Stark gewachsen ist sie in Lateinamerika, einigen asiatischen Ländern sowie in Afrika. Die Zahlen dazu hat der evangelische Systematiker Friedrich Wilhelm Graf für sein Buch "Götter global" zusammengetragen.
8. April 2017, 21:58
Das Christentum hat Konjunktur, auch wenn der Mitgliederschwund vor allem der katholischen Kirche in Deutschland und Österreich etwa das nicht unbedingt vermuten lässt. In den vergangenen hundert Jahren hat sich die Zahl der Christen in der Welt vervierfacht, was natürlich in erster Linie am rasanten Bevölkerungswachstum liegt. Stark gewachsen ist die Zahl der Christen in Lateinamerika, einigen asiatischen Ländern sowie in Afrika. Lebten um 1900 in Afrika zehn Millionen Christen und mehr als dreimal so viele Muslime, so stehen dort heute 317 Millionen Muslime 360 Millionen Christen gegenüber.
Neue unabhängige Kirchen in Afrika
Den traditionellen Kirchen machen dabei sogenannte Independent Churches Konkurrenz, vor allem die diversen Pfingstkirchen. In Nigeria zum Beispiel, mit rund 170 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste Land Afrikas mit 60 Prozent Christen, formierten sich in den vergangenen Jahrzehnten zahllose pfingstlerisch-evangelikale Kirchen mit Namen wie "Winner's Chapel", "Victory Bible Church" oder "World Miracle Church International". Hier wird Religion intensiv gelebt: mit die ganze Nacht dauernden, lauten Gottesdiensten, Bibelschulen, eigenen Radio- und Fernsehstationen, Bekehrungs-"Kreuzzügen" und großen Gebetskongressen. Die charismatischen Prediger dieser Kirchen werden nicht selten wie Popstars gefeiert.
Auch in Ghana sind neue christliche Kirchen entstanden, die mit "prosperity gospels" die Menschen locken, mit Wohlstandspredigten, in denen es um Aufstieg, Besitz und Triumph geht, und wo Lieder angestimmt werden wie "Jesus is a Winner Man". Christen seien geborene Sieger, sie müssten nur fest an ihren Erfolg glauben, dann würde er auch kommen. Die neuen "Health and Wealth Christianities", die mit ihrem Wohlstands- und Wachstumsmantra "anschlussfähig sind an neoliberale Marktideen und einen globalen Kapitalismus", hätten, so Friedrich Wilhelm Graf, "einen religiösen Markt geschaffen", auf dem man selbstbestimmt wählen könne, "je nach Divinalgeschmack".
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Das, was wir Christentum nennen, wird immer differenzierter, bunter, vielfältiger. Die Zahl von neugegründeten Kirchen nimmt kontinuierlich zu. Das Christentum ist außerhalb Europas, vor allem im globalen Süden, die dominierende missionierende Kraft, die große Anhängerscharen zu rekrutieren versucht. Das ist ein Christentum, das von unseren kirchlichen Christentümern weit entfernt ist. Körperlichkeit wird betont, asketischer Lebenswandel, aber auch charismatische Begeisterung, Ergriffensein durch den Heiligen Geist, Hoffnung auf Heilungserfahrung usw. Das ist für viele Menschen attraktiv.
Gesellschaftlich-politische Sprengkraft
Religionen, nicht nur die christliche, werden immer globaler - und immer stärker vermarktet, stellt Graf fest. Aber wie kommt es, dass die Welt zum Supermarkt der Religionen wurde? Wie ist der Boom der Pfingstchristen und der sogenannten "Kreationistischen Internationale" zu erklären - und wie die wachsende Faszinationskraft fundamentalistischen Hardcore-Glaubens? Warum sind gerade liberale Gesellschaften anfällig für religiösen Fundamentalismus - und wie lässt sich politisierte Religion wieder zivilisieren? Diesen und anderen Fragen geht der Autor in einem faktenreichen, differenziert argumentierendem und daher äußerst anregendem Buch nach, das deutlich macht, dass Religion voll gesellschaftlich-politischer Sprengkraft ist und ihre Globalisierung eine neue Qualität erreicht hat.
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Dass das europäische Christentum außerhalb Europas aggressiv missioniert, ist ein Phänomen der frühen Neuzeit. Aber in der Gegenwart erleben wir noch etwas qualitativ ganz Anderes. Wir haben neue Kommunikationsmöglichkeiten, Stichwort Internet, und deshalb eine sehr viel schnellere religiöse Ideenzirkulation. Das, was an einem bestimmten Ort an Religion gelebt und kommuniziert wird, kann nun in ganz andere Lebenswelten sehr schnell transportiert werden. Und dadurch entstehen Konflikte. Aber dadurch entstehen auch dichte und intensive Austauschprozesse.
Gottesvermarktung
Dass Religions- und Glaubensfragen zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine derart zentrale Rolle spielen würden, hätte man noch vor wenigen Jahrzehnten wohl kaum für möglich gehalten. Doch die liberale Vorstellung, dass Gottesglaube eine private Angelegenheit ist, hat sich als Illusion erwiesen, sagt Graf. Die Religionen sind vielmehr "in neuer Intensität in den öffentlichen Raum zurückgekehrt". Freikirchen, Sekten, Pfingstgemeinschaften und charismatische Gruppen konkurrieren mit den großen Kirchen, allein um die Anhänger christlichen Glaubens buhlen mittlerweile rund 33.000 rechtlich eigenständige Religionsgemeinschaften oder Kirchen. Die Welt wird zum Markt für "global aktive Religionsdienstleister", die mit ihren "Heilsprodukten", "Lebenssinngütern" und "Erlösungsideen" um "Glaubensmarktanteile" streiten und dabei nicht selten, so der Autor, ein "aggressives God-Selling" betreiben.
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Religiöse Akteure bieten in aller Regel dasselbe Gut an, dasselbe Heilsgut: nämlich Sinnstiftung, Orientierung, klare Normen usw. Sie bieten in aller Regel auch Netzwerke der Solidarität an, wo ich Unterstützung in Krisenlagen meines Lebens bekomme. Weil sie im Kern alle dasselbe anbieten, haben sie ein starkes Interesse daran, sich voneinander zu unterscheiden. Die unterschiedlichen Sinngüter werden von den einzelnen Anbietern immer besonders stark mit einer Markenidentität zu versehen versucht. Also man sagt, ich bin ein Katholik oder wir sind ein katholischer Anbieter. Und deshalb setzt man dann etwa auf Erneuerung der traditionellen Liturgie, der lateinischen Liturgie. Oder andere sagen, wir sind besonders stark im Bereich von Meditationstechniken, und deshalb haben wir buddhistische Elemente importiert.
Sehnsucht nach Orientierung
Die Hinwendung zur Religion hat unterschiedliche Gründe. Da ist zum einen die Sehnsucht nach verbindlichen Orientierungen in einer Welt, die von vielen als schnelllebig, unübersichtlich und irritierend pluralistisch erfahrenen wird. Da ist zum anderen die Suche nach Identität und Zusammengehörigkeit nicht zuletzt bei all jenen, die sich durch Migration heimat- und wurzellos fühlen. Von dem Religionsboom profitieren dabei vor allem zwei Bewegungen, die Graf genauer untersucht: die Pfingstchristen, für die das Werk des Heiligen Geistes zentral und strenge Bibelauslegung verpflichtend ist, und die "Kreationisten", die darwinsche Evolutionstheorie und moderne Naturwissenschaften bekämpfen und Mensch und Universum allein als Werk des Schöpfergottes verstehen. Beides sind "harte" Religionen, die fundamentalistische Glaubenssysteme offerieren.
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Sie fordern viel, aber sie bieten eben auch viel. Sie bieten klare Orientierungen in einer Welt, in der sich traditionelle Institutionen auflösen. Und in einer solchen Welt ist es für manche Menschen oder sogar für viele Menschen sehr, sehr attraktiv wieder auf jemanden zu stoßen, der sagt, es gibt klare, verbindliche Orientierungen, es gibt ein göttliches Gesetz, es gibt Normen - das soll sein, und das andere soll nicht sein. Das ist fordernd, aber bietet eben auch Gewissheit, Sicherheit. Und hinzukommen dann effizient geknüpfte Netzwerke der Solidarität.
Individuelles "Sinnbasteln"
Neben der verstärkten Hinwendung zu konservativ-orthodoxen Gruppierungen und Kirchen sieht Graf noch ein weiteres Phänomen, das momentan im Trend liegt: das individuelle "Sinnbasteln", die ganz persönliche Kombination verschiedener Glaubenselemente. Viele Menschen würden sich aus Versatzstücken unterschiedlicher Religionen ihre "höchst private Glaubenswelt" bauen. Graf nennt das "Bricolage".
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Menschen machen Ferien in Thailand und kommen begeistert vom Buddhismus zurück, obwohl das, was sie wahrgenommen haben, sicher nicht ein besonders intensiv reflektierter Buddhismus ist. Und dann finden sie, dass Lotusblumen was Wunderschönes sind. Und dann finden sie es ganz toll, dass der Pater in der Gemeinde nun auch buddhistische Meditation anbietet. Und dann hängen sie Lotusblumen in ihr Wohnzimmer und schmücken mit diesen Lotusblumen eventuell auch das Kruzifix, das da von alters her hängt. Das alles sind klassische Bricolage-Phänomene, die wir in vielen europäischen Gesellschaften beobachten.“
Religion zivilisieren
In Zeiten erstarkender Religiosität wachsen auch die Religionskonflikte: Konflikte zwischen den Religionen, aber auch solche zwischen Religion und Staat, wie Graf schon in der Einleitung deutlich macht, anhand der Schlagzeilen eines einzigen Tages. Vom Mord aus Glaubenshass ist da die Rede, vom Dauerstreit um Kopftücher, Kirchenkampf um homosexuelle Priester oder Blasphemie durch Burka-Comics. Politisierte Religion führe zu "ganz harten Kulturkämpfen und immer neuem Streit um die Grundlagen der politischen Ordnung", so Graf. Statt eine religiöse Begründung des Staates zu verlangen gelte es, die Religionen zu "zivilisieren", die Begrenzung bzw. Selbstbegrenzung des Glaubens einzufordern und dessen Unbedingtheitsanspruch zu hinterfragen.
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Letztlich sehnen sich sehr, sehr viele Menschen nach einer Art bürgerlicher Securität und nach zivilen Verhältnissen. Und deshalb haben viele ein Interesse daran, die Unbedingtheitsrhetorik und die damit verbundene Gewaltbereitschaft in religiösen Communities zu relativieren oder zu neutralisieren.
Wir sollten uns an das Projekt der Aufklärung erinnern, meint Graf, wenn wir einen Weg finden wollen, wie religiöser Glaube mit einer freiheitlichen politischen Ordnung in Einklang zu bringen ist: statt blindem Religionsgehorsam Recht auf Religionskritik, statt serviler Glaubensknechte mündige, emanzipierte Bürger, statt Allmacht Kontrolle. Gott ist nicht allmächtig und wollte das nie sein, das zeige die christliche Vorstellung von der Inkarnation, der Menschwerdung Gottes, mit der auch "den Machtphantasien der Herrschenden jede theologische Legitimation" entzogen wird, so Graf.
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Der moderne liberale Rechtsstaat ist kein christlicher oder sonst irgendwie religiös fundierter Wertestaat. Der moderne liberale Staat beruht auf dem Prinzip der weltanschaulichen Neutralität staatlicher Institutionen. Und was wir brauchen in Gesellschaften unseres Typs, in pluralistischen Gesellschaften, ist Rechtsgehorsam, also die Akzeptanz der Tatsache, dass es etwas gibt, das für alle gilt - das ist das Recht. Aber das wir darüber hinaus keinerlei moralische Verbindlichkeiten haben. Ich bin nicht dazu verpflichtet, die Weltanschauung eines Wiener Kardinals oder eines oberösterreichischen Protestanten für allgemein verbindlich zu halten.
Mit "Götter global" hat Friedrich Wilhelm Graf ein sehr informatives und lesenswertes, eine Fülle von Aspekten berücksichtigendes Buch geschrieben, das auch der Formel vom Heiligen Krieg nachgeht, die Entwicklung der Ökumene kritisch betrachtet und auch der "kultischen Überhöhung des Amtscharismas des Papstes" nichts abgewinnen kann.
Ein Buch, das alles andere als optimistisch schließt: Vieles spreche dafür, dass religiöse Konflikte auch in Zukunft das Weltgeschehen prägen werden, nichts deute darauf hin, dass sich solche Konflikte bald abschwächen könnten. Denn solange Armut und Ungerechtigkeit das Leben vieler Menschen bestimme, bleibe der "wichtigste Identitätsgarant" dieser Menschen nichts anderes als der Gottesglaube. Und der mündet nicht selten in religiösem Fanatismus.
Service
Friedrich Wilhelm Graf, "Götter global. Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird", Verlag C. H. Beck