Über das Trinken und das Glück

Nüchtern

Alkoholabhängigkeit ist eine Krankheit, die gesellschaftlich nicht genügend ernstgenommen wird, meint Daniel Schreiber in seinem Buch "Nüchtern". Es erzählt die Geschichte seiner Alkoholabhängigkeit und will zugleich eine gesellschaftspolitische Kampfschrift sein.

Ein gutes Glas Wein, ein oder zwei Bier, ein Schnaps. Mehr oder weniger hochprozentige Getränke gehören hierzulande ganz selbstverständlich zum sozialen Leben dazu. Österreich und Deutschland liegen mit jährlich rund 13 Litern reinen Alkoholkonsums pro Kopf im europäischen Mittelfeld, aber weit über dem globalen Durchschnitt. Auch wenn es nicht den Anschein hat, wir trinken immer mehr. Der Pro-Kopf-Verbrauch an Alkohol habe sich seit den 1950er Jahren fast vervierfacht, und es sterben mehr Menschen an Leberzirrhose als an Verkehrsunfällen, rechnet der deutsche Journalist Daniel Schreiber seinen Lesern vor.

Von Scham und Selbstbetrug

Er sei niemals rot geworden, wenn er sich eine Packung Gauloises-Zigaretten kaufte, beobachtet Daniel Schreiber. Die Flaschen Wein allerdings, die er regelmäßig im nachts geöffneten Kiosk erstand, kommentierte er dem Verkäufer gegenüber oft mit einem lässigen Spruch, als müsse er da etwas überspielen, eine geheime Scham, die er spürte, aber nicht so recht wahr haben wollte.

Scham ist einer der zentralen Begriffe in Schreibers Buch über das Trinken. Ein anderer zentraler Begriff ist der des Selbstbetrugs. In seinem schmalen aber eindrucksvollen Essay beschreibt der heute 37-jährige Berliner Journalist seinen Weg in den Alkoholismus, vor allem aber auch den Weg wieder hinaus. Das Perfide an der Alkoholsucht sei, dass sie einem vormache, man habe diese Krankheit gar nicht, man sei nicht wirklich abhängig. Denn zunächst ist Alkohol ja nichts anderes als eine liebe Gewohnheit.

Schreiber trank mit der Zeit immer mehr. Lange machte er sich selber etwas vor, und die anderen – das ist ein springender Punkt – machten mit in diesem Spiel. Der Autor schildert im Buch Strategien des Selbstbetrugs, die manchem bekannt vorkommen werden. Er verordnete sich mäßigeres Trinken, begrenzte die Gläser Wein am Abend, legte bewusst Zeiten der Abstinenz ein, um sich zu beweisen, dass alles unter Kontrolle sei. Solche Regeln seien aber oft ein sicheres Zeichen dafür, dass die Dinge bereits aus dem Ruder laufen, meint Schreiber.

Folgen werden verharmlost

Auch wenn Daniel Schreiber die Mechanismen des Trinkens am Beispiel seines eigenen Lebens erklärt, geht es ihm nicht um eine persönliche Geschichte, sondern um ein gesellschaftspolitisches Problem. Alkoholismus richtet enormen Schaden an, das wissen alle: Er zerstört Leben, Familien, Freundschaften, Karrieren. Dennoch werden die Folgen von Alkoholkonsum radikal verharmlost. Da wird fahrlässig von tolerierbarer Abhängigkeit geredet, die ja noch keine Sucht sei. Da wird vor allem aber Alkoholismus als ein psychisches Problem Einzelner abgetan, die sich nicht recht disziplinieren können. Daniel Schreiber wird nicht müde zu betonen: Alkoholismus ist eine Krankheit, und zwar eine, die die Struktur des Gehirns nachhaltig verändert. Genau deshalb ist sie vom Trinker oder der Trinkerin selbst nicht zu kontrollieren:

Trinken lernt man wie Fahrradfahren – und genau wie das Fahrradfahren kann man es nicht mehr verlernen. Zu fest ist die Verbindung von Alkohol und Lustgewinn im Hirn verankert. Nicht jeder wird abhängig, aber für diejenigen, die es werden, bleibt der Alkohol daher lebensgefährliches Terrain.

Schmiermittel der Gesellschaft

Es wäre viel gewonnen, meint Daniel Schreiber, wenn man die Sucht als eine Krankheit wirklich ernst nähme, und noch mehr wäre gewonnen, wenn offener und ehrlicher über sie gesprochen werden könnte. Stattdessen herrsche eine Kultur der Scham und Beschämung. Schreiber schildert, dass er auf Widerstand stößt, seit er nüchtern lebt. Nicht zu trinken gilt als dubios, als genussfeindlich, als irgendwie anstößig. Aber warum? Vielleicht weil der Selbstbetrug in Bezug auf Alkohol nicht nur Einzelne betrifft, sondern die ganze Gesellschaft? Wir brauchen den Alkohol mehr als uns lieb sein kann, meint Daniel Schreiber. Alkohol ist das Schmiermittel, mit dem die Arbeitsgesellschaft läuft:

Daniel Schreiber hat mit "Nüchtern" ein mutiges Buch geschrieben: Mutig ist es in der Selbstoffenbarung, mutig aber auch in seiner Bescheidenheit. Schreiber erwähnt, dass er sich vor einigen Jahren über all das lustig gemacht hätte, was er jetzt für ein ausgeglichenes Leben hält: Meditieren, Yoga machen, Diskussionsgruppen besuchen, für sich Sorge tragen. Doch genau das hat geholfen, vor allem die dauerhafte Unterstützung durch die Gruppen der Anonymen Alkoholiker. Allein wird man nicht nüchtern.

Schreibers kurzer Essay ist ein wichtiger Impuls, über die gesellschaftliche Rolle von Alkohol nachzudenken. Er macht auch deutlich, wie omnipräsent Alkohol in allen Lebensbereichen ist und vermittelt nicht zuletzt glaubhaft, dass das Glück tatsächlich darin liegen könnte, nicht trinken zu müssen.

Service

Daniel Schreiber, "Nüchtern. Über das Trinken und das Glück", Hanser Berlin Verlag