Die Bücher des Patrick Modiano
Patrick Modiano ist ein Virtuose der Erinnerung, der seine literarischen Themen konsequent verfolgt. In seinen eleganten Texten geht es immer wieder darum, was die Zeit mit den Menschen macht und ob man Verlorenes wiedergewinnen kann. Das Erinnern und die Epoche des Zweiten Weltkriegs stehen im Zentrum seiner Werke.
8. April 2017, 21:58
Im deutschsprachigen Raum ist Modiano erst Mitte der 1980er Jahre bekannt geworden, als Peter Handke seinen Roman "Eine Jugend" ins Deutsche übersetzt hat. Mittlerweile liegen aber fast alle 30 Werke auf Deutsch vor.
Kulturjournal, 09.10.2014
Modianos erster Roman erschien im Jahr der Maiunruhen 1968 und wirkte, gerade aus der Feder eines erst 23-jährigen Autors, wie ein Fremdkörper in dieser bewegten Zeit. "Place de l'Etoile" gab bereits den melancholischen Tonfall und das bei Modiano immer wiederkehrende Thema der von den Nationalsozialisten besetzten französischen Hauptstadt vor.
Jeder weitere Roman des äußerst zurückhaltenden, lang aufgeschossenen und publikumsscheuen Autors erschien dem Leser dann, nach und nach, als weiteres Bruchstück seiner verhüllten Autobiographie: Eine geheimnisvolle, verschleierte Welt im Paris der 50er und 60er Jahre eröffnete sich, bevölkert von zwielichtigen, schwer fassbaren Figuren. Eine Welt, in der stets jemand - meist der Erzähler – auf der Suche ist, nach Biographien und Spuren aus der jüngeren Vergangenheit, der Zeit, als das Feldgrau der deutschen Besatzer zur dominierenden Farbe in der Lichterstadt geworden war. Wobei, ganz im Gegensatz zur verschwommenen, ungewissen Atmosphäre, die Modianos Romane ausstrahlen, die Topographie der Seine-Metropole, Straßen, Plätze und Häuser von höchster Präzision sind, so als sei der Autor mit dem Pariser Stadtplan im Kopf zur Welt gekommen.
"Das begann als Jugendlicher, mit Balzac, diese Vision, die Balzac von Paris hatte, das faszinierte mich", so der neue Nobelpreisträger. "Die Kulisse der Stadt fasziniert mich seit jeher. Das sind die Zufälle des Lebens, ich liebe durchaus die großen Romane über das Land und die Natur, wie etwa bei Thomas Hardy, oder bei Tolstoi; es ist ein Handicap, ich kann das nicht, ich habe durchaus davon geträumt, einen großen Roman zu schreiben, der auf dem Land spielt, aber der Zufall wollte eben, dass ich in Paris geboren wurde."
Auf der Suche nach der Identität
Als Modiano 1978 für "Die Gasse der dunklen Läden" im Alter von nur 33 Jahren den Prix Goncourt erhielt, entdeckte Frankreich einen sich mündlich nur sehr schwer und zögerlich ausdrückenden Modiano, der über seine Hauptperson sagte:
"Er ist einer, der das Gedächtnis verloren hat, und versucht herauszufinden, wer er vorher war. Er verfolgt Spuren seiner Vergangenheit, sich vortastend, versucht Spuren von dem zu finden, der er einmal war. Der Gedächtnisverlust ist für mich ein Symbol dessen, was ein Leben sein könnte, jemand der seine Wurzeln und seine Identität sucht."
Erst vor wenigen Tagen hat Modiano ein neues Buch auf den Markt gebracht, mit dem für ihn so typischen Titel "Damit du dich im Stadtviertel nicht verlierst" – und immer noch, über 35 Jahre danach, geht es auch hier um die Suche nach Erinnerungen und Vergangenheit.
Aufarbeitung der Kindheit
Ein Gutteil von Modianos Werk ist die Aufarbeitung seiner Kindheit. "Er hat eine ziemliche komplizierte Kindheit gehabt, war nicht von seinen Eltern groß gezogen worden", erzählt der Literaturkritiker Olivier Bekhmanian. "Seine Romanpersonen haben Gedächtnislücken und es herrscht oft ein sehr düsteres Klima. Wenn man Modiano liest, dann ist das wie ein Puzzle, man muss die Erinnerungen des Autors Modiano und die Erinnerungen seiner Romanfiguren wieder zusammensetzen."
Über drei Jahrzehnte lang hatte der Leser nur ahnen können, was Modiano von Roman zu Roman zu dieser ständigen Suche nach Spuren der Vergangenheit antrieb. 2005, im Alter von 60, hat er sich dann sozusagen geoutet, in seinem Roman "Le Pedigrée", zu Deutsch "Der Stammbaum". Darin hat der am Ende des Zweiten Weltkriegs Geborene trocken und distanziert, ja fast lakonisch aufgedeckt, was er seit seiner Kindheit mit sich herumschleppt, was die Quelle seines Schreibens und Suchens seit Jahrzehnten war, nämlich der absolute Liebesentzug, das Fehlen jeder Zuwendung seitens seiner Eltern und deren Verwicklungen in die Geschehnisse der Jahre, als die Hakenkreuzfahne über dem Eiffelturm wehte.
Eine Mutter, die als zweitklassige Diva vor deutschen Soldaten und der Propagandastaffel tanzte, nach Paris gekommen war und vergeblich versuchte, in den von den Nazis übernommenen Continental Filmstudios Karriere zu machen. Und ein Vater, dem sie 1943 begegnet war, und der es als Jude während der deutschen Okkupation geschafft hat, mit Schwarzmarktgeschäften, wechselnden Identitäten und dank manch guter Beziehung zu den Besatzern zu überleben.
Auch Modianos Roman "Der Horizont", 2010 erschienen, ist geprägt von der Suche in vergangenen Zeiten, nur dass er - ein absolutes Novum - nicht Paris, sondern Berlin als Hauptort der Handlung hat. Eine Stadt, so der Autor, die so alt sei wie er selbst, die symbolträchtigste Stadt seiner Generation, über Jahrzehnte hinweg aus Ruinen wieder aufgebaut, wieder zu sich gekommen und vereint.