Kritik an unserem Umgang mit dem Tod
Sterben zwischen Würde und Geschäft
Günther Loewit, Tiroler des Jahrgangs 1958, praktischer Arzt im niederösterreichischen Marchegg, Roman- und Sachbuchautor kritisiert, dass unsere Kultur nicht nur das Sterben verlernt habe, sondern auch den Tod aus ihrer Wirklichkeit verbanne.
8. April 2017, 21:58
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Jahrhundertelang, so wollte es der Volksmund, sollte der Hochzeitstag der schönste Tag im Leben sein. Heute dagegen hat es den Anschein, dass wir ein Leben lang nach dem schönsten Tag suchen. Andererseits könnte man auch sagen: Wenn man ständig auf einen Höhepunkt des Lebens wartet, muss zwangsläufig der Todestag der schönste Tag des Lebens sein. Vielleicht schafft erst der Tag des Sterbens endlich jene Klarheit und Ruhe, nach der sich Menschen in ihren Wünschen ein Leben lang sehnen?
Ob aber nun der Todestag ein schöner Tag ist, oder, wie wir es eher erwarten, ein trauriger und schmerzvoller: es ist unser eigener Tag! Was aber, wenn dieser Tag uns nicht mehr gehört? Genau davon handelt Günther Loewits Buch.
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Wir sterben versehentlich. Wir sterben abgesondert und abgeschoben im Hospiz. Wir sterben palliativ. Wir sterben während einer letzten OP. Wir sterben auf der Intensivstation. Wir sterben einsam. Wann und warum ist uns die Vertrautheit des Sterbens abhandengekommen?
Nach drei Romanen und zwei durchaus kontroversiell angelegten medizinischen Sachbüchern landete Günther Loewit fast logisch beim Thema des Sterbens, hieß doch sein vorletztes Buch „Der ohnmächtige Arzt“, und sein letztes: „Wieviel Medizin überlebt der Mensch?“. Die Widerstandsfähigkeit der Patienten gegen Behandlungen aller Art spielt auch in seinem neuen Buch „Sterben zwischen Würde und Geschäft“ eine nicht unerhebliche Rolle.
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Notruf 144. Eine moribunde, demente 88-jährige Patientin soll reanimiert werden. Sofort macht sich der Notarztwagen auf den 23 Kilometer weiten Weg. Die Sanitäter der im Ort befindlichen Rettungsstelle sind natürlich schneller und stürmen einsatzmäßig ins Haus. Die 88-Jährige stirbt gerade. Sofort stürzen drei uniformierte Sanitäter ans Krankenbett. Die sterbende Frau macht gerade die letzten Schnappatmungszüge, der Puls hat eben ausgesetzt. Das sofort angelegte EKG zeigt typische letzte elektrische Zuckungen des sterbenden Herzens. Ein Sanitäter reißt die Sterbende in die stabile Seitenlage, wie er es gelernt hat. Alles läuft routinemäßig ab.
Möchten Sie so sterben?? - Das Buch enthält Dutzende solcher anonymisierter, aber authentischer Fallbeispiele, die laut Autor gar nichts Besonderes sind, sondern tagtäglich hundertfach in ganz Westeuropa in dieser oder ähnlicher Art vorkommen. Grund für diesen bestürzenden, wenngleich unbeabsichtigten Diebstahl des jeweils eigenen, persönlichen Todesmoments sind nicht nur Gesetze, die beispielsweise einem Sanitäter vorschreiben, vor Eintreffen eines Arztes in jeden Fall mit einer Reanimation zu beginnen. Auch wenn der Patient im Sterben liegt, oder sogar bereits gestorben ist. Grund sind auch die Berührungsängste sowohl der Angehörigen als auch der Ärzte.
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Es ist derzeit keine therapeutische Option, den körperlichen Tod in Kauf zu nehmen, um das seelische Wohlbefinden zu wahren. Die moderne Medizin steht der Seele und ihren Bedürfnissen ebenso hilflos gegenüber, wie die Religion jahrhundertelang dem Körper verständnislos gegenübergestanden ist.
Günther Loewit versteht sich als Haus- und Familienarzt im klassischen Sinn, für den Geburt, Aufwachsen, Altern und Sterben natürliche Vorgänge sind, in denen der Patient auf jeweils verschiedene Weise von der einfühlsamen Begleitung durch den Hausarzt profitiert. Vor dem Begriff der „Sterbehilfe“ schreckt Günther Loewit dabei ganz ausdrücklich nicht zurück. Er zieht den Vergleich zur Geburtshilfe; so wie man von selbst geboren werde, sterbe man auch von selbst. Und, er erinnert an die Formulierung des Volksmundes „hinüberschlafen“.
Wem gehört der Tod? Warum fürchten wir den Tod? Woran sterben wir? Was kostet das Leben? Wer entscheidet über Leben und Tod? Das sind verschiedene Unterkapitel in dem dreiteiligen Buch, das das Sterben unter den Aspekten des persönlichen Sterbens, des Sterbens innerhalb der Gesellschaft, sowie das Verhalten der Medizin im Angesicht des Sterbens abhandelt. Verschiedene gesetzlich festgelegte Sterbehilfe-Begriffe werden im Buch erörtert, und Günther Loewit schlägt dabei stets auch den Bogen zu seinem Alltag als Arzt.
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Die moderne Medizin versucht seit Jahrzehnten, alles Individuelle aus ihren Verfahrensweisen zu eliminieren. Den Gipfel hat diese Tendenz in den Forderungen der „evidence-based medicine“ gefunden. Statistiken und groß angelegte multizentrische Studien sollen zeigen, was im Einzelfall die bestmögliche Behandlung darstellt. Wie aber soll eine Medizin, die alles und jedes genau beschrieben und festgelegt hat, mit dem diffusen und unbestimmten Bild des Sterbens umgehen? Wie soll sie auf die Summierung unterschiedlicher Beschwerdebilder eines Menschen, der im Sterben liegt, reagieren?
Der Arzt Günther Loewit diagnostiziert in seinem Buch eine kranke und stillstehende westliche Gesellschaft, die wenig Kinder hat, und zugleich ihre Alten nicht sterben lassen kann.
Service
Günther Loewit, „Sterben zwischen Würde und Geschäft“, Haymon Verlag