Entscheidungen nicht treffen

Viele Menschen gehen gerne Shoppen. Aber nicht alle, von Kleider, Möbel, Schuhen, Partnerbörsen gar nicht zu sprechen – auch ein Supermarkt kann zur Krise werden. Nicole Dietrich geht Käse kaufen.

Supermärkte sind minutiös geplante, gemeine Konsumlabyrinthe. Sie stellen entscheidungsschwachen Menschen mit Zielverweigerungssyndrom Fallen. Verführungen sonder Zahl säumen den Weg zum Objekt der anfangs postulierten Begierde. Dem Käse.

Eine Begierde, die nunmehr von neuen Begierden überlagert wird. Ich sondiere Oliven – könnten ja auch gut dazupassen, aber brauch ich die wirklich, na ja, womöglich –, es folgt die Frage, ob Himbeeren im Doppelpack tatsächlich ein Angebot sind, was wiederum Rechenleistung einfordert, d.h. Zeit sowie Qualitätskontrolle, ob verschimmelte darunter sind. Gut, ich nehm sie. Dann registriere ich Pinienkerne im Augenwinkel – Braucht man doch auch im Vorrat, oder?

Der Weg ist nicht das Ziel

Mittlerweile jongliere ich einen Stapel von Packungen, das Netz mit den Mandarinen schneidet mir ins Fleisch der linken Hand. Bewusst hab ich keinen Einkaufswagen genommen, warum auch, nur wegen einem Stück Käse? Die erste Packung kracht zu Boden. Ich knie nieder, der Rest folgt und rollt dazwischen.

Wer bin ich heute?

Der Grant ziert mein Gesicht. Einkaufen eröffnet die Grundsatzdebatte zum Thema Identität. Welcher Shoppingtyp bin ich heute? Stelle ich auf Askese? auf Sparefroh? auf Völlerei und Hedonismus? Oder gar auf gesundheitsbewusst? Sollte ich nicht alles wieder zurückstellen? So, das tu ich jetzt. Apropos, ich hab noch einen Termin.

Der richtige Abstand

Wieviel Meter muss ich vom Käsesortiment weit weg stehen, damit der Verkäufer(in) hinter der Budel durch mein gustierendes Wippen nicht nervös wird?

Ich will die richtige Entscheidung treffen. Sie will schnell abwiegen und einsackeln. Stehe stehe ich zu weit weg von der Vitrine, kann ich die Etiketten nicht mehr lesen. Stehe ich optisch gut, d.h. nah an den laktosehältigen Ecken, Scheiben und Quadern, fühle ich mich beobachtet, gedrängt und damit blockiert. So kann man sich doch nicht entscheiden!

Lust auf Neues, Treue dem Alten?

Ich geh zurück zum fertig verpackten Industriekäse. Der Alltag zwingt zu Pragmatik. Ich gehöre zu den Konsumentinnen, die am Ende immer dasselbe kaufen. Also Gouda. Eigentlich schade, oder? Und wer ist schuld?

Entscheide dich nicht!

Die Lebensberater und Simply Life Missionare mögen dagegenhalten: Entscheide dich, sei geradlinig und das Leben wird leichter. Aber wenns nicht grad um Käse und Konsum geht, spricht viel für eine Kultur des Vielleicht.

Unentschiedene machen Beziehungsangebote

Sie sind offen für Andere, bereit in Dialog zu treten, flexibel und hellhörig. Das ist ihrer Schwäche geschuldet: Sie müssen Varianten und Argumente aufnehmen, denn sie wissen ja nicht so eindeutig, was sie eigentlich wollen. Die Verfasser von Käse-Etiketten dürfen sich also freuen: Sie werden gelesen. Detto der Käsefachhandel: Hier ist ein Kundenstock, der sich noch was einreden lässt. Wobei:

Unentschiedene haben rebellisches Potential

Entscheider poltern. Sie treffen das Ziel, erlegen die Beute; dh sie wählen, damit – wie es so schön heißt - "etwas weitergeht", damit sich die Wege gabeln, der Mensch nicht im Dickicht der Möglichkeiten verloren geht. Aber in der Möglichkeit liegt auch die Verweigerung.

Unentschiedene sind nicht Wendehälse, sie bleiben nur öfter hängen, lassen sich ablenken und zögern. Politisch ist diese Anpassungsunwilligkeit nicht das Dümmste. Aus diesem Eck wird man selten kreischende Bekenntnisse vernehmen.

Unentschiedene lassen sich schaukeln

Zwischen dem (strebsamen) Ja und dem (renitenten) Nein geht es hin und her. Eigentliche eine schöne Bewegung. Es ist ein Tanz, ein Wippen und Wanken, ein Wackeln und Schaukeln. Es bedarf eines Urvertrauens und schafft Geborgenheit.

Das große Vielleicht des wacker unentschieden dahinlebenden Menschen agiert als Kommunikator zwischen der rechten und linken Gehirnhälfte. Wer schaukelt, hat Schwung. Schwung für Neues. Vielleicht werde ich beim nächsten Käse-Einkaufsversuch ja schwerelos. Vielleicht bloß wieder nur grantig.