"Leviathan" - Russland heute im Film
Vergangenes Jahr hat Andrej Swjaginzews Film den Drehbuchpreis in Cannes gewonnen: "Leviathan" - ursprünglich ein mythologisches Seeungeheuer, das Thomas Hobbes zum Sinnbild des allmächtigen Staates erhoben hat - symbolisiert in dem Film Korruption, Gier und die Allmacht des Staates im heutigen Russland.
8. April 2017, 21:58
Morgenjournal, 12.3.2015
Chronik einer Existenzvernichtung
Der Leviathan ist in der Mythologie ein Seeungeheuer, das sich äußerlich aus den Wesenszügen eines Drachen, einer Schlange, eines Krokodils und eines Wals zusammensetzt. Es kommt in der Bibel unter anderem im Buch Hiob vor, der Staatstheoretiker Thomas Hobbes verwendete den Namen "Leviathan" 1651 in seinem gleichnamigen Werk als Ausdruck für die Allmacht des Staates, eine Interpretation, der auch der russische Regisseur Andrej Swjaginzew in seinem Film "Leviathan" folgt. Letztes Jahr hat der Film den Drehbuchpreis bei den Filmfestspielen von Cannes gewonnen.
Es wird viel und gern getrunken in einem Küstenort an der Barentssee. Der eine trinkt um zu feiern, der andere, um seinen Kummer zu vergessen und seine Seele zu betäuben. Der eine ist ein korrupter Bürgermeister, der andere ein Automechaniker, dem der Bürgermeister das Haus unter juristisch fragwürdigen Umständen weggenommen hat.
Willkür des Systems
Das Unrecht nimmt seinen Lauf und damit die Chronik einer Existenzvernichtung mit kontinuierlicher Verlustbilanz: zuerst das Haus, dann die Familie, letztlich die Freiheit. Regisseur Andrej Swjaginzew ist der Chronist, der eine Operation am offenen Herzen des russischen Alltags vornimmt, behutsam aber beharrlich jene Ungereimtheiten offen legt, die zur Selbstverständlichkeit verkommen sind: eine korrupte Polizei, eine ignorante Justiz, die Willkür des Systems in dem der Staat, seine Funktionäre, aber auch die orthodoxe Kirche eine fatale Symbiose bilden.
Regisseur Swjaginzew sieht aber auch die universelle Dimension seines Dramas: "Der Kampf gegen die Willkür des Staates ist ja nicht nur in Russland ein Thema. Es ist eigentlich überall die Aufgabe von Bürgern, gegen den Staat anzukämpfen, wenn er die Freiheit beschneiden will. Natürlich schauen auch viele Menschen weg, aber wenn, dann muss man dieses Problem auf sehr direkte Weise angehen."
Foulspiel gegen Foulspiel
Swjaginzew geht weit über die Institutionenkritik hinaus, tastet die Charakterdefizite aller Beteiligten ab, also die Abgestumpftheit, die das Gemeinwesen zerstört und den vorsätzlichen Alkoholmissbrauch. Und auch der Moskauer Anwalt des Mechanikers, der mit der Arroganz des Hauptstädters auftritt, geht gegen das Foulspiel des Staates mit ebensolchem Foulspiel vor. "Selbstverständlich im Rahmen des Gesetztes", wie der Anwalt süffisant betont. Moralisch verständlich, aber ist es auch wirklich richtig?
Aktualität des Films
Doch das Gesetz wird hier ohnehin mit der Schusswaffe geschrieben. Das muss der Anwalt letztlich erkennen, auch wenn er noch einmal davon kommt. Die Aktualität des Films mag erschrecken, Regisseur Swjaginzew relativiert: "Natürlich wollten wir uns nicht auf plumpe Weise mit der russischen Staatsmacht anlegen. Ich hatte ein Treffen mit dem russischen Kulturminister, er hatte sogar Verständnis für manche Dinge die ich zeige. Doch gefallen hat ihm der Film nicht. Ich kann das verstehen, denn er hat andere Ziele als ich. Ich bin Künstler und Kunst muss immer auch Aufklärung sein."
Schmerzhaft poetisch
Fischerboote von denen nur mehr das Gerippe übrig ist, ein riesiges Walskelett am Strand, Dachstühle ohne Dachziegel, morsche Häuser. Für den Zustand dieser Gemeinschaft im Hohen Norden findet Regisseur Swjaginzew in ihrer schroffen Schönheit auch schmerzhaft poetische Bilder. Es ist eine Gemeinschaft, die der Leviathan fest umschlungen hat.
Service
Andrey Zvyagintsev (engl.)