"Randnotizen" von Nadja Kwapil

Referenzpunkt Antike

Der moderne Geist steckt in Sandalen mit Korksohlen und robusten Lederriemen, in sogenannten Crepidae, wie man sie in der Antike trug.

Der moderne Geist hüllt sich in fantasievoll drapierte Togen, bevor er im grell beleuchteten HD-TV-Studio vor die Kameras tritt - oder einen ausführlichen Leitartikel verfasst, den Abbildungen von körperlosen Steinbüsten zieren.

In Kopftuch-, in Burka-Debatten, in Kapitalismus- und Liberalismusdiskussionen blicken öffentliche Experten, Kommentatoren wie Journalisten, gern zurück, weit zurück - in die Antike am besten, immer wieder dieselbe Epoche als Referenzpunkt. "Unser Wertefundament stammt aus der Antike", sagte ein Moderator in einer Fernsehdiskussion vor wenigen Tagen. "Die europäische Bürgerbeteiligung ist ein Kind der attischen Demokratie des antiken Roms", stand in einer deutschen Zeitschrift.

Es ist ja auch eine reizvolle, eine schillernde und nachhaltige Epoche, diese Antike, die ungefähr von 800 vor Christus bis 600 nach Christus dauert, sagen Geschichtsbücher: Ohne die griechischen wissenschaftlichen Disziplinen, wie Logik, Mathematik, Philosophie, ohne römisches Recht, Architektur und Kunst, ohne die damals entstandenen politischen Ideen der Griechen und Römer, wäre die westliche Kultur nicht so reichhaltig, wie sie heute ist. Undenkbar.

Denkbar war auch lange nicht, dass sich die Antike eines Tages wieder zur glorifizierten und offenbar verführerischen Ikone Intellektueller mausern können würde. Nach dem Zweiten Weltkrieg machte sich jeder verdächtig, der sich wohlwollend auf die Antike berief, die planmäßig zwischen Verklärungsriten rund um andere, vielversprechendere Epochen verstaubte. Bewusst vergessen war sie, da Diktatoren sie im Krieg nach der eigenen Logik ihrer Machtideologien missbraucht hatten, wie das NS-Regime, das eine Rückkehr zum antiken Reich anstrebte und den Cäsaren-Kult zelebrierte, der ihre Gewaltherrschaft erklären und legitimieren sollte.

Fehlinterpretationen kommen und gehen. Die Antike ist ein Sehnsuchtsort für Erklärungs- und Legitimationsbedürftige geblieben, für Ursachen- und Wirkungsforscher. Mit ihrem Ideenreichtum bietet sie scheinbar reichlich Stoff für Erklärungsmuster, für schlüssige und weniger schlüssige Argumentationsschablonen, für all die offenen Fragen, vor die uns Kriege, Gesellschafts- und Wirtschaftskrisen derzeit stellen. Und die so den Zufall zum nichtsnutzigen Narr erklären.
Die Erwartungen gegenüber diesem Damals sind hoch, reichen bis in die Zukunft: Wenn uns die Antike zu unseren Wurzeln zurückführen kann, sie uns zeigen kann, woher wir kommen und wie wir wurden was wir sind, soll sie uns auch gleich zeigen, was aus uns wird oder werden könnte.

Vielleicht könnte sie das wirklich, vielleicht könnte die Antike mehr als ein Orakel von Delphi sein, eine Art Kompass für die Zukunft, wenn der Referenzpunkt der öffentlichen Diskutanten die Vielfalt der Epoche wäre und sie die Menschen, die im 21. Jahrhundert leben, auf neue Ideen bringen würde, nicht ständig auf alte; wenn sie nicht stetig um dasselbe, kleine Repertoire an antiken Theorien und Symbolfiguren kreisen würden, die so überschaubar sind, wie die geladene Gäste auf den Podien - Mit Aristoteles als ungebrochenen Dauer-Star in ihrer Mitte, als treuen Zitate-Spender. Dicht gefolgt von Platon und Sokrates, die mit "Ich weiß, dass ich nicht weiß"-Logik dem Publikum die Bedeutung der Welt erklären sollen.

Der Nimbus der Antike heißt längst nicht mehr Vernunft, Logik oder Philosophie, sondern "Anschein-Bildung". Je weiter zurück die argumentative Reise innerhalb der Epoche geht, desto seriöser und glaubwürdiger sollen die Quellen erscheinen - und die, die sich ihrer bedienen. Jahreszahlen beeindrucken. Der moderne Geist wirkt gern. Der moderne Geist sucht nicht nach dem Naheliegenden, das auch jeder andere mit einem Griff erreichen kann.