Pop-Poet Distelmeyer im Kunstforum Wien

Musikkritiker nannten ihn "den besten Poptexter seiner Generation in deutscher Sprache". Als Frontman der Hamburger Band Blumfeld prägte Jochen Distelmeyer den deutschen Pop der 90er Jahre. 2007 trennte sich Blumfeld. Seither ist Distelmeyer solo unterwegs. Heute Abend tritt er im Kunstforum Wien auf.

Jochen Distelmeyer

Jochen Distelmeyer

JD

Kulturjournal, 22.4.2015

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Kunstforum Wien

In der Pop-Gemeinde hat er fast den Status eines deutschen Bob Dylan. Als Frontman der Band Blumfeld brachte Jochen Distelmeyer Poesie und Indie-Rock auf einen gemeinsamen Nenner. Er verwob deutschen Sprechgesang mit akademischen Referenzen und warf die postmoderne Zitiermaschine an. Ein Stück vertexteter Welt über Selbstverwirklichungsterror, die Politik nach dem Scheitern der Utopie und die kleinen und großen Befindlichkeiten auf dem Schlachtfeld des Privaten.

Die postmoderne Zitiermaschine

Spätestens mit dem Kultalbum "L'etat et moi" (1994) wurde Blumfeld-Frontman Jochen Distelmeyer zum ungekrönten König des deutschen Diskurspop. Eine ungeliebte Etikette. Heute Abend tritt Distelmeyer im Kunstforum Wien auf. Mit im Gepäck hat er neben Blumfeld-Songs auch Nummern aus seinem 2009 erschienen Solo-Album "Heavy".

Aktuell arbeitet Distelmeyer an einem neuen Album. 2016 soll es erscheinen. Zuletzt hat Distelmeyer aber als Romancier aufhorchen lassen. Diesen Jänner ist sein Debütroman "Otis" bei Rowohlt erschienen. Als bildungsbürgerliche Schablone dient Homers Odyssee. Referenzen zur Tagespolitik werden natürlich mitgedacht: In der Irrfahrt über das Meer entdeckt Distelmeyer das zeitgenössische Flüchtlingsdrama, in den Liebesabenteuern des homerischen Helden die Bindungsprobleme der viel zitierten Generation Y.

"Mein Interesse an dem Mythos bestand vorrangig darin, dass ich das sehr aktuell finde. Es geht um Flüchtlings- und Asylpolitik, aber auch um Fragen der Waffentechnologie, wenn Sie sich zum Beispiel die Erzählung über das Trojanische Pferd anschauen. Diese Themen sind in der Odyssee sehr plastisch und präzise dargestellt", sagt Distelmeyer. Er schickt seinen Protagonisten Tristan freilich nicht über das Mittelmeer, sondern lässt ihn durch die Berliner Republik des Jahres 2012 navigieren. In "Otis" spannt Distelmeyer ein buntes Gesellschaftspanorama auf und erzählt von saturierten Theaterdirektoren, die früher einmal Avantgarde waren, lokalen Großkritikern, Diven und so genannten "Projektschwaflern".

"Für den Roman war die Weitläufigkeit der Stadt Berlin interessant. Jeder Kiez ist in Berlin sozusagen eine eigene Insel. Der ideale Schauplatz für einen herumirrenden, liebeskranken Flüchtling. Berlin ist für mich auch ein Brennglas für eine bundesrepublikanische, wenn nicht gesamteuropäische Entwicklung. Europa wird immer mehr zum Erlebnispark für das 20. Jahrhundert und das kann man in Berlin in kondensierter Form erleben", sagt Jochen Distelmeyer über seinen Debütroman "Otis".

Erlebnispark Europa

Als Schreiber von Pop-Songs wird Distelmeyer verehrt, mit der Großform des Romans hat er sich allerdings überhoben. Überfrachtet und kompositorisch unausgegoren kommt Distelmeyers Erstling daher. Der Pop-Poet, so eine einhellige Kritik, habe nicht nur seinen Protagonisten auf eine Odyssee geschickt, sondern sich mit seinem Ausflug in die Literatur selbst auf eine Irrfahrt begeben. Heute Abend hat das Wiener Publikum die Gelegenheit den Musiker Jochen Distelmeyer zu erleben.

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