90 Jahre Salzburger Festspiele im Radio

Salzburger Welttheater

Im 2010 publizierten Ausstellungskatalog "Das große Welttheater - 90 Jahre Salzburger Festspiele" erinnert sich der Theaterdramaturg und Regisseur Hermann Beil daran, wie er im August 1958 als 17-Jähriger inmitten eines riesigen Zeltes am Stadtrand von Lyon "andächtig aufgeregt" der Rundfunkübertragung des "Don Carlo" aus Salzburg aus einem kleinen Kofferradio lauschte: "Erst viele Jahre später erlebte ich die Felsenreitschule persönlich, doch an diesem Abend fühlte ich mich leibhaftig in Salzburg. So suggestiv kann ein Hörerlebnis sein."

So wie dem heutigen Direktionsmitglied des Berliner Ensembles, Hermann Beil, mag es vielen Festspielkünstler/innen in den vergangenen Jahrzehnten ergangen sein. Nikolaus Harnoncourt spricht gelegentlich von prägenden Hörereignissen Ende der 1940er Jahre, sein junger Kollege Yannick Nézet-Séguin lauschte als 14-Jähriger 1989 in Montreal erstmals einer Salzburger-Festspiel-Übertragung. Auf dem Programm: Brahms‘ Vierte Symphonie, gespielt von den Wiener Philharmonikern unter Carlo Maria Giulini. Das Konzert hätte ihn so beeindruckt, erzählte Nézet-Séguin einmal, dass er zehn Jahre später persönlich zu Giulini gepilgert sei, um bei ihm zu studieren.

3.000 Stunden Musik für die ganze Welt

Es dürften wohl an die 3.000 Stunden Musik gewesen sein, die - in chronologischer Reihenfolge - die RAVAG (die österreichische Radio Verkehrs AG), der Sender Rot-Weiß-Rot und der ORF in 90 Jahren von Salzburg aus in alle Welt übertragen haben. Der Anfang war bescheiden: Die Übertragung der Oper "Don Juan" am 24. August 1925 aus dem Salzburger Stadttheater, dem heutigen Landestheater, musste sich noch mit einem einzigen Mikrofon über der Mittelloge und einer Telefonleitung in die Wiener Johannesgasse begnügen. Hören konnte man das Experiment mit Detektor vorerst nur in Wien und Umgebung. Doch bereits zehn Jahre später, 1935, berichtete die Zeitschrift "Radio Wien" von 295 Sendern in Europa und Amerika, die sich an den Übertragungen aus Salzburg beteiligten.

"Mit Toscanini hatten wir immer Schwierigkeiten"

Der damalige Salzburger Sendeleiter, Josef Capek, erinnerte sich viele Jahre später an seine Pionierzeit in den 1930er Jahren: "Ich habe diese Übertragungen sozusagen als Ein-Mann-Team gemacht - ich hab im Festspielhaus, im Theater und im Mozarteum Mikrofone aufgebaut und die Übertragungen durchgeführt. Das war eine Glanzzeit der Festspiele mit Bruno Walter und Arturo Toscanini. Mit Toscanini hatten wir übrigens immer Schwierigkeiten, weil er sehr eigenwillig war und nicht warten wollte mit dem Beginn einer Vorstellung, während wir ja in Verbindung waren mit Genf:

Genf war die Zentrale, von wo aus die Übertragungen an die europäischen und überseeischen Sender weitergegeben wurde. Die waren natürlich nicht immer zur richtigen Zeit fertig und haben uns ersucht, noch zu warten! Aber wir konnten den Toscanini nicht aufhalten, das wäre nur mit Brachialgewalt möglich gewesen. Der ist also durchgestürmt und hat alle zur Seite gestoßen, wenn er anfangen wollte. Ich hab das also nach Wien berichtet, und man hat mir dann den Doktor Riemerschmid geschickt, den damaligen Sprecher. Er war sozusagen als Organisator da, um den Toscanini zu bändigen und dafür zu sorgen, dass wir rechtzeitig anfangen können."

Karajan sollte das Mikrofon nicht sehen

Schwierigkeiten mit Sängern, Dirigenten und Regisseuren gilt es auch heute noch partnerschaftlich zu meistern. Ob es um die möglichst störungsfreie Platzierung der Mikrofone geht, um Senderechte im In- und Ausland, um Streaming und die sogenannten "catch-up rights" im Internet oder um gelegentliche künstlerische Bedenken der Interpreten, sowohl was ihre eigene Leistung betrifft als auch jene des Aufnahmeteams.

Herbert von Karajan beispielsweise wollte 1975 zur Premiere von "Don Carlo" partout kein von der Decke hängendes Hauptmikrofon sehen. Der gewitzte Tonmeister zog daraufhin das Stereomikrofon hinauf, nur um es leise wieder abzusenken, sobald das Licht im Saal erloschen war. Ein böser Schriftwechsel mit dem Maestro war die Folge - die Übertragung aber gerettet.

Die archivalische Rarität vom Sommer 1937

Apropos gerettet: Ö1 präsentiert am 15. August mit "Le Nozze di Figaro" unter Bruno Walter eine archivalische Rarität vom Festspielsommer 1937: Arturo Toscanini ließ damals alle Festspiel-Opern mit dem hochmodernen "Selenophon", einer österreichischen Erfindung, die auf der Lichtton-Technik beruht, mitschneiden. Sowohl das Gerät als auch die "Tonbänder" haben als "Toscanini Legacy" im Tonarchiv der New York Public Library die Zeiten überdauert. Vor wenigen Jahren wurde die Aufzeichnung des "Figaro" aufwendig restauriert und gibt heute Zeugnis vom hohen Standard der Mozart-Interpretation anno 1937.

An den 78 Jahre alten "Figaro" mag sich heute kaum noch jemand erinnern. Aber vielleicht ist es manchem Zeitgenossen damals ähnlich ergangen wie heute Hermann Beil, der seine "Fußnote" im Ausstellungskatalog folgendermaßen beschloss: "Von den 90 Jahren Salzburger Festspiele habe ich durch unzählige Rundfunkübertragungen an mehr als fünf Jahrzehnten Anteil nehmen können. Und ich verdanke dieser Möglichkeit viel für meine musikalische Existenz. Das ist eine Erfahrung, die bleibt. Es ist mein ganz privates Salzburger Welttheater."