Kurzessay zu Sprüche 9, 1 – 6

Die Weisheit hat ihr Haus gebaut, ihre sieben Säulen behauen und lädt zu einem Festmahl. Ein herrlicher Text aus Tagen, in denen der Wohlstand sehr begrenzt war und Traumbilder einer satten, paradiesischen Welt erstanden, auf Weisheit gebaut.

Weisheit meint hier eine Erkenntnis, die weiß, was Menschen erhoffen und was ihnen auch zusteht. Das ist eine Weisheit, die begriffen hat, dass jeder Mensch Geschöpf Gottes ist: der Reiche und der Arme, der Sesshafte und der Flüchtling. Wenn es um Feste und ums Essen und Trinken geht, dann darf es hier keine Unterschiede geben.

Ich habe noch im Ohr, wie ein Reicher seine Weisheit preisgab: Im Haus seiner Weisheit durften nur Einheimische Platz nehmen und essen. Das nannte er Nächstenliebe und verstand darunter Liebe zum Einheimischen, nicht zum Fremden, nicht zum Flüchtling. Wie weit die offene und geheime Zustimmung zu dieser Verdrehung biblischer Liebesweisheit reicht, erkennt man heute mühelos. In Traiskirchen waren Ende Juli 4000 Flüchtlinge zusammengepfercht; viele von ihnen hatten nicht einmal ein Bett. Das Haus des Wohlstandes schafft es nicht, den Flüchtlingen halbwegs menschengerechte Unterkunft bereitzustellen, geschweige denn sie zu einem Festmahl zu laden.

Das Haus dieses Wohlstands sieht seltsam aus. Leerstehende Wohnungen dienen als Spekulationsgut oder als Geldanlage; in ehemaligen Internatsräumen lagern statt Menschen Bilder und sonstige alte Stücke; Arbeitsverbote treiben die, die Kriege und Flucht um ein Haar überlebt haben, in ein gesellschaftliches Niemandsland. Das ist nicht Nächstenliebe und auch nicht Weisheit vor Gott, sondern Folge eines engen Geistes, der an Lähmung leidet und an einem neidischen Gehabe – wie Imre Kertész einmal schrieb: „Das bärtige Europa gleicht einem alten Geizkragen, der dem Mädchen, das ihn bei der Damenwahl zum Tanz auffordert, einen Stockhieb versetzt, da er nur eines mutmaßt: man wolle sein Geld … Ganz Westeuropa hat sich auf Verteidigung eingestellt, mit seinem nach Osten vorgeschobenen Wachtposten, den Österreichern. Aber nie taucht die Frage auf, was es denn außer Geld noch zu verteidigen gebe.“

Ich weiß es nicht; daher möchte ich fragen: Was gibt es heute zu lernen? Dieser alte Text aus den Sprichwörtern gibt etwas zu lernen auf: Es darf keine Zeit geben, in der der Traum von einem Festmahl für alle erstickt wird. Es darf keine Zeit geben, in der solche Träume nicht Motivation fürs Handeln sind. Es darf keine Zeit geben, in der die zufällig Reichen sich wie Geizhälse gebärden und die Armen und Flüchtlinge diskreditieren, abschieben und ihrem tödlichen Schicksal überlassen.

In jeder Zeit muss der Traum vom Festmahl für alle möglich sein und wirklich werden – auch in einem reichen Land wie Österreich. Denn hier hat man genug, um allen Essen, Trinken und lebensfrohe Stunden schenken zu können.