Ruhrtriennale eröffnet mit "Accattone"

Zum Auftakt seiner ersten Ruhrtriennale-Ausgabe in Dinslaken zeigt Intendant Johan Simons eine Theatralisierung von Pier Paolo Pasolinis Kino-Debüt "Accattone" zu Kompositionen von Johann Sebastian Bach. Begleitet wird die Passionsgeschichte von Philippe Herreweghe und dem Collegium Vocale Gent.

Kulturjournal, 14.8.2015

Nicole Strecker

Eigentlich heißt er "Vittorio", der Sieger. Doch seine Freunde nennen ihn nur: "Accattone" - der Bettler und Schmarotzer. Der Titelheld von Pier Paolo Pasolinis erstem, in Schwarz-Weiß gedrehtem Kinofilm verdient sich sein Brot als Zuhälter. Er ist zu stolz, um sich unter das Joch harter Arbeit zu begeben. Der Arbeitslose sei in dieser Lebenswelt, sagte Regisseur und Ruhrtriennale-Intendant Johan Simons vorab immer wieder, der "Höchste in der Hierarchie".

Eine Geschichte von Arbeitsverweigerung also an einem Ort, an dem alles an harte höllengleiche Arbeit erinnert: Die Kohlenmischanlage der Zeche Lohberg bei Dinslaken ist Schauplatz für Simons Inszenierung über Accattone, der aus Liebe zur unschuldigen Stella sein Leben ändern will, scheitert und erst im Tod Erlösung findet. Eine pathetische Elendsgeschichte, die schon Pasolini mit Kompositionen von Johann Sebastian Bach ins Metaphysische überhöhte und die in Dinslaken musikalisch begleitet wird vom Bach-Spezialisten Philippe Herreweghe und dem Collegium Vocale Gent.

Gottessucher in unwirtlicher Gegend

Es staubt. Der Boden der Spielfläche besteht aus Geröll. Zarte Partikelchen tanzen im Sonnenlicht, jeder Schritt lässt kleine Wolken an den Fersen aufstieben als stapfe man durch eine Schotterwüste. Auf einem halb vergrabenen Schild steht kaum entzifferbar der Name "Jupiter-Schacht" - ein Göttervater, der in Staub und Dreck versinkt. "Pasolinis Filme handeln von der Wüste, wo der Mensch steht und Gott ruft - aber Gott erscheint nicht", meint Intendant Johan Simons.

Und so schickt er für seine Theatralisierung von Pasolinis Kinofilm-Debüt seine Darsteller und Zuschauer in unwirtliches Gelände: die Zeche Lohberg bei Dinslaken. Gigantische 210 Meter ist die Halle der ehemaligen Kohlenmischanlage lang. Von ihrem Ende nähert sich zu Beginn des Abends die Clique um Held Accattone. Im Gegenlicht treten sie auf wie gefallene Engel. In Wahrheit aber sind sie verwahrloste Halbwelt-Gesellen: Zuhälter und Prostituierte.

Vom Wert der Arbeit

Andere Gesellschaftsschichten im Theater abbilden, aber auch: sie ins Theater zu holen, das ist seit jeher das Credo von Regisseur Johan Simons. Schon mehrfach hat er Pasolini, den italienischen Intellektuellen mit Vorliebe fürs Subproletariat, inszeniert. Jetzt also die Geschichte über den Schmarotzer Accattone, der sich von Frauen aushalten lässt. Für ihn sei es, sagt Simons, auch eine Geschichte über den Wert der Arbeit. "Ich hole meine Identität aus meiner Arbeit. Aber es gibt natürlich Leute, die machen eine Scheißarbeit, wo sollen die die Identität hernehmen? Jedenfalls nicht aus ihrer Arbeit. Und Arbeit wird es immer weniger geben, was bedeutet dann Arbeit? Ich selbst komme aus armen Verhältnissen, und ich weiß ungefähr wie diese Menschen ticken."

Subproletarische Krawalle

Diese Leute, das Lumpenproletariat, so wie Simons es versteht, boxt und trampelt derbe und ausgelassen über seine Schotterpiste, wirft sich wimmernd vor Selbstmitleid in den Staub, um die Madonna anzuklagen, und behauptet mit Wut einen kleinen Rest Würde im schäbigen Leben. Nur eine ist ganz anders: Stella, gespielt von Anna Drexler: "Es ist eine Figur, die am Anfang eine Sehnsucht hat, wo dabei zu sein. Sie landet in dieser Accattone-Gruppe wie auf einem Mond; sie ist ein Alien." Bei Pasolini tappt die Stella als somnambule Unschulds-Blondine in die Falle. Bei Johan Simons und im faszinierenden Spiel von Anna Drexler dagegen grabscht sie wie ein junges, lebenshungriges Tier nach Accattones Verlockungen.

"Wir gehen ja davon aus, dass diese Accattone-Geschichte auch eine Art Passionsgeschichte ist, von der mir schwergefallen ist die am Anfang zu sehen", sagt Schauspielerin Sandra Hüller, vor allem bekannt aus Film-Produktionen. Bei Johan Simons ist sie die Prostituierte Maddalena. "Ich sehe einfach erst mal jemand, der sich weigert zu arbeiten und alle anderen beschuldigt, dass sie schuld sind an seinem Elend. Und wenn man das aber weiterdenkt, wird er aber tatsächlich zu so einer Art Christusfigur. Das ist ganz seltsam, man kriegt es gar nicht mit, wo der Punkt eigentlich ist, dass der plötzlich unser aller Sünden trägt."

Von Bachscher Wucht erschüttert

Denn schon Pasolini unterlegte den Subproletariats-Krawall mit einem eigenwilligen Soundtrack: Kompositionen von Johann Sebastian Bach. Pasolini wollte, dass sich, wie er schrieb, die Hässlichkeit der Gewalt und das Sublim-Musikalische gegenseitig durchdringen. Aber während bei ihm die Musik bloßer Soundtrack für den Zuschauer bleibt, werden in der Inszenierung von Johan Simons die Figuren immer wieder von der Wucht des Klangs erschüttert. Sie halten inne, lauschen den live spielenden Musikern des Collegium Vocale Gent unter Leitung von Philippe Herreweghe als hörten sie zum ersten Mal in ihrem lumpigen Leben Bach.

Service

Ruhrtriennale 14.8. bis 26.9.2015