Wie Mädchen als Söhne aufwachsen
Afghanistans verborgene Töchter
Die Journalistin Jenny Nordberg deckt auf, was anderen westlichen Beobachtern – auch wenn sie länger im Land lebten – bisher offensichtlich entgangen war: Dass viele Familien eine Tochter als Bub verkleiden.
8. April 2017, 21:58

HOFFMANN UND CAMPE
Kontext, 21.8.2015
Solche Mädchen nennt man "Bacha Posh", erzählt die Autorin. Bacha bedeutet in Dari, der am meisten gesprochenen Sprache Afghanistans, schlicht "Junge". Und "posh" bedeutet verkleidet. Also wörtlich: Als Junge verkleidet.
Das Bacha Posh-Phänomen ist in der afghanischen Gesellschaft ein offenes Geheimnis. Fast jeder kennt eine Familie, die ein Mädchen als Jungen großzieht. In den meisten Fällen ist diese Farce eine Art gesellschaftlicher Kunstgriff. Denn wer in einer so konservativen und männerdominierten Gesellschaft keine Söhne vorzuweisen hat, gilt als schwach und verachtenswert.
Eine Frage des Geldes
In armen Familien geht es oft weniger um die Ehre, zumindest einen falschen Sohn vorweisen zu können, als ums Geld. Eine Bacha Posh kann nämlich beispielsweise in einem Geschäft aushelfen und so zum Familienunterhalt beitragen.
Mit der Heuchelei ist es in den allermeisten Fällen freilich vorbei, sobald die Pubertät beginnt. Dann weiß freilich jeder ganz offiziell, dass die Familie doch keinen Sohn hat. Doch das Lüften eines ohnehin offenen Geheimnisses scheint auf wundersame Weise nicht mit Scham behaftet zu sein.
Jenny Nordberg interviewte Teenager, die gerade die Rückverwandlung durchmachten sowie viele erwachsene Frauen, die einmal eine Pacha Bosh gewesen waren:
"Viele betonen das Positive. Zu merken, dass sie einem Mann ebenbürtig sind, war eine gute Erfahrung. Sie haben ein Hirn und einen Körper und sie können initiativ sein. Das habe ihnen im Leben weiterholfen. Andere wiederum empfinden ihr ehemaliges Bacha-Posh-Dasein eher als Tragödie. Sie wünschten, sie wären nicht als Junge aufgewachsen. Denn in die andere Geschlechterrolle zurückzuwechseln, sei sehr schwierig für sie gewesen."
Aus Shukur wird wieder Shukria
Je länger ein Mädchen als Bacha Bosh gelebt hatte, desto traumatischer die Umstellung. Shukur zum Beispiel war schon 20 Jahre alt, bis aus ihr wieder eine Shukria wurde und ihre Eltern sie verheirateten.
Shukria musste weibliches Verhalten von Grund auf erlernen: Wie sie sitzen, gehen, stehen, was und worüber sie reden sollte; und auch, dass sie nun nicht mehr so mir nichts dir nichts außer Haus gehen konnte. In ihrem Buch beschreibt Jenny Nordberg auch ausführlich Shukrias Schwierigkeiten im Haushalt.
Shukria hat die Umstellung allmählich geschafft. Mittlerweile hat sie drei Kinder. Ihre Zeit als Bacha Posh gab ihr genug Selbstbewusstsein, in ihrem Beruf als Krankenschwester nun ihre Frau zu stehen. Sie ist die Alleinverdienerin der Familie und studiert außerdem nebenher Medizin.