Sem-Sandbergs Roman "Die Erwählten"

Mit seinem Monumentalroman "Die Elenden von Lodz" hat der schwedische Schriftsteller Steve Sem-Sandberg 2009 einen international diskutierten Bestseller vorgelegt. In seinem jüngsten Werk arbeitet er ein finsteres Kapitel der österreichischen Zeitgeschichte auf: die "Jugendfürsorgeanstalt" am Spiegelgrund, wo in der NS-Zeit Hunderte Kinder und Jugendliche ermordet wurden.

Morgenjournal, 20.10.2015

Es ist ein düsteres und in vielerlei Hinsicht überwältigendes Buch, das Steve Sem-Sandberg da vorlegt. Die Anstrengungen der Schreibarbeit stehen dem 57-jährigen noch ins Gesicht geschrieben. Sieben Jahre lang hat sich Sem-Sandberg mit seinem 525 Seiten starken Roman geplagt, Tag für Tag hat er daran geschrieben, wie er sagt, auch zu Weihnachten, zu Ostern und am Neujahrstag.

"Ein Buch übers Überleben"

Anhand einer fiktiven Figur namens Adrian Ziegler, einem elfjährigen Fürsorgezögling, dessen Schicksal eng an das des realen NS-Fürsorgeopfers Friedrich Zawrel angelehnt ist, zeigt Sem-Sandberg, was Hunderten und Tausenden Kindern zwischen 1940 und 1945 am Spiegelgrund widerfahren ist: Sie wurden systematisch gedemütigt, gequält und gefoltert, mindestens 789 Kinder und Jugendliche wurden im Rahmen des NS-Euthanasieprogramms ermordet. Bei aller Düsternis, die über diesem Roman liegt: Steve Sem-Sandberg legt Wert darauf, dass er letztlich ein optimistisches Buch geschrieben hat, ein Buch übers Überleben.

Dokumentarisches und Fiktives

Wie in früheren Büchern arbeitet der Autor auch in diesem mit einer sorgsam austarierten Mischung aus Dokumentarischem und Fiktivem: Die Namen der Opfer sind fiktionalisiert, die Täter agieren auch im Roman mit Klarnamen - Dr. Jekelius, Dr. Illing, Dr. Heinrich Gross.

"Viele Autoren, die über den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg schreiben, dämonisieren das Böse. Sie würden einen Mann wie Dr. Gross als das ‚Böse in Menschengestalt‘ beschreiben, als einen Teufel im weißen Mantel. Meiner Ansicht nach ist das der falsche Zugang. Was sieht man, wenn man Dr. Gross betrachtet? Man sieht einen Opportunisten, der sich stets im Mainstream seiner Zeit bewegt, ob das nun der Mainstream der NS-Zeit oder der Nachkriegszeit ist, man sieht einen Opportunisten, der sich mit äußerster Umsicht um seine Karriere kümmert. Es ist diese trostlose Durchschnittlichkeit, die ihn böse macht, nicht so sehr seine Ideologie und seine Geisteshaltung."

Ein Schwede arbeitet ein finsteres Kapitel der österreichischen Zeitgeschichte auf: Steve Sem-Sandbergs beeindruckender Roman "Die Erwählten" ist im Verlag Klett-Cotta erschienen.

Service

Steve Sem-Sandberg, "Die Erwählten", Roman, aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek, Verlag Klett-Cotta, Stuttgart, 524 Seiten