Gespräch mit dem Dirigenten Paavo Järvi

Alle vier Brahms-Symphonien bringt Paavo Järvi mit der Kammerphilharmonie Bremen am Wochenende in Wien zur Aufführung. Ein Gespräch über Terror, den unspielbaren Brahms und die Chemie zu den Musikern.

Kulturjournal, 3.12.2015

Paavo Järvi ist einer der gefragtesten Dirigenten des Konzertbetriebs und Chefdirigent gleich dreier großer Orchester: des Orchestre de Paris, mit dem er während der Terroranschläge auf Paris zusammen war, des NHK Symphony Orchestra Tokyo und der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen.

Gemeinsam mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen bringen Sie im Wiener Konzerthaus alle vier Brahms-Symphonien zur Aufführung. Wieso funktioniert die Chemie zwischen Ihnen und den Musikern so gut?

Da ist eine Kombination von musikalischer und menschlicher Vereinbarkeit, und das ist gar nicht so leicht zu finden. Ich erinnere mich an meine erste Zusammenarbeit mit dem Orchester, wir arbeiteten an einem Beethovenprojekt, und ich dachte‚ wenn ich diese Symphonie jemals aufnehme, dann mit diesem Orchester. Sie spielten so, wie auch ich diese Musik fühle oder höre. Sie haben auch meine Art von Begeisterung und Enthusiasmus beim Arbeiten. Und das ist so wichtig, wenn man eine musikalische Beziehung eingeht. Ich habe sofort gefühlt, dass da etwas ist in das ich mehr involviert sein will.

Sie haben gemeinsam einige herausragende Projekte gemacht. Von Beethovens 9. Symphonie, die auf der Urtextfassung beruht, konnten wir uns auch in Salzburg überzeugen. Nun arbeiten Sie schon die längste Zeit an den Brahms-Symphonien. Sie haben einmal in einem Interview gesagt, dass es unmöglich sei, Brahms gut zu musizieren. Was macht ihn so schwierig?

Das ist natürlich sehr subjektiv, aber ich finde, dass Brahms so viele Dimensionen und Traditionen hat, dass man wirklich Angst davor haben muss, eine überzeugende Vorstellung zu bieten. Ich kenne sehr akademische Interpretationen, sehr dynamische oder emotionale - manchmal zu emotional. Es ist schwierig die richtige Balance zu finden; eine organische Balance. Brahms teilt seine Absichten nicht sehr klar mit. Er weiß schon genau, was er will, aber er sagt es uns nicht. Bei Schumann zum Beispiel wissen wir in jeder Sekunde, was er fühlt. Brahms schreibt immer so diffuse Bemerkungen wie "ein bisschen lauter", "nicht so schnell". Auf der einen Seite warnt er einen vor Übertreibungen, auf der anderen tut er seine klaren Vorstellungen nicht kund.

Jede Musik hat auf die eine oder andere Weise eine Geschichte zu erzählen; diese bei Brahms zu erraten, ist sehr schwierig. Nachdem ich die Brahms-Symphonien nun viele Jahre studiert habe, kann ich sagen, dass für mich der Weg ist, nicht zwanghaft an die Konstruktion zu denken; nicht zu glauben, dass man ein Handlanger von Traditionen sein muss; keine Angst vor gutem oder schlechtem Geschmack zu haben, sondern sich nur von dem leiten zu lassen, was sich im Laufe des Stücks kontinuierlich entwickelt. Das ist es ja auch, was wir mit anderer Musik tun. Nur bei Brahms gibt es so viele riskante Momente, wo man plötzlich kein Sicherheitsnetz mehr unter sich spürt. Geht man aber nicht ganz nahe an die Partitur ran, birgt Brahms immer die Gefahr, grau und langweilig zu werden. Natürlich nicht Brahms, aber die Interpretationen. Diese Aspekte machen es für mich persönlich so schwierig, Brahms zu interpretieren.

Nach den Konzerten in Wien fahren Sie mit dem Orchester nach Paris. Dort sind Sie auch noch Chef des Orchestre de Paris. Wie sind Ihre Gefühle und die der Musiker?

Ich finde keine Worte zu beschreiben, was ich fühle, wenn ich an diese beiden Massaker denke. Es ist so traurig, dass wir in so einer Situation leben müssen; mit ihr irgendwie umgehen müssen. Ich will und kann mir gar nicht vorstellen, was die betroffenen Familien durchmachen. Ich habe selbst eine Frau und zwei Töchter. Doch das Leben geht weiter, und wir spielen Musik. Das ist vielleicht genau in dieser Situation sehr wichtig: Man gibt den Menschen ein paar Minuten der Freude, der Ablenkung von diesen grauenhaften Geschehnissen und dieser Angst. Viele Menschen meiden Menschenansammlungen, weil sie sich nicht sicher fühlen. Ich bin sicher, dass Musik genau in diesen Momenten hilft.

Da ist sie wahrscheinlich noch wichtiger als im sogenannten normalen Alltag.

Ja, das denke ich auch. Wir waren während des zweiten Anschlags in Frankfurt und am nächsten Tag in Brüssel, wo die Terroristen ja zum Teil herkamen. Wir begannen das Konzert mit einer Schweigeminute, und das war wirklich hart. Ich konnte sehen, wie die Musiker mit ihren Emotionen kämpfen mussten, weil man diese Hilf- und Hoffnungslosigkeit nach so einem Geschehnis so richtig fühlt. Das ist nicht zu beschreiben.

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