Orhan Pamuk auf Cornell-Retrospektive in Wien

Der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk war gestern Abend im Kunsthistorischen Museum in Wien zu Gast. Der Anlass: die Retrospektive über den New Yorker Künstler Joseph Cornell. Dessen Faszination für Alltagsgegenstände hat Pamuk zu seinem "Museum der Unschuld" inspiriert.

In der vollbesetzten Kuppelhalle des Kunsthistorischen Museums sprach der Schriftsteller über die poetische Kraft der Alltagsobjekte.

Morgenjournal, 16.12.2015

Wunderkammer des Gewöhnlichen

Kemal, ein Angehöriger der Istanbuler Oberschicht, liebt die arme Füsun. Weil er sie nicht bekommen kann, beginnt er Gegenstände von ihr zu sammeln: Ohrringe, Damenschuhe, Lippenstifte, leere Flakons, Fotografien. Es entsteht ein "Museum der Unschuld" - so auch der Titel des 2008 erschienenen Romans von Orhan Pamuk, der diese Liebesgeschichte erzählt. Das Besondere dabei: Pamuk beließ es nicht bei der Fiktion, sondern hat in Istanbul ein ganz reales Museum der Unschuld eingerichtet, gefüllt mit Objekten aus dem Istanbuler Alltagsleben ab den 1950er Jahren. Eine königliche Wunderkammer des ganz und gar Gewöhnlichen.

"Wenn Sie Alltagsgegenstände auf einen Sockel oder in eine Vitrine stellen und kunstvoll zueinander arrangieren, verleihen Sie ihnen eine ganz neue Bedeutung, eine Würde, die sie isoliert betrachtet nicht haben, erklärt Pamuk, "So gesehen ist Joseph Cornell wohl einer der erfolgreichsten Pop-Art-Künstler, indem er unseren Gebrauchsgegenständen eine Aura und ein Gewicht verleiht, wie man sie sich von Kunst erwartet."

Die Stadt als Verzeichnis unserer Erinnerungen

Tatsächlich wurde Cornell ab den 1930er Jahren zum großen Vorbild für Künstler wie Andy Warhol, seine Kunst fand prominente Sammler, die zu den in Schachteln und Kisten angeordneten Artefakten eine fast schon intime Beziehung entwickelten. Orhan Pamuk wundert das nicht: Ähnlich wie sein tragischer Held Kemal würden schließlich alle Menschen ihre Gefühle und Erinnerungen an bestimmen Objekten festmachen:

"Ich habe mein ganzes Leben in Istanbul gelebt. Sagen wir, ich bin verliebt und sehe einen alten Brunnen. Wenn ich drei Jahre später wieder an diesen Brunnen komme, wird dieses Gefühl wieder in mir aufsteigen. Eine Stadt ist eine Art Verzeichnis unserer Erinnerungen. Wenn die alten Häuser, Brücken und Straßen einmal zerstört werden, wird auch die Verbindung zu unseren Erinnerungen gekappt. Deswegen wollen wir diese Architektur wohl erhalten."

Dinge, die das Leben ausmachen, zu erhalten, sie aufs Podest zu stellen: Diesem Verlangen würden Museen und Romane gleichermaßen nachkommen, sagt Orhan Pamuk.

Verwerter unserer Erfahrungen

Es sind solche ursprünglichen menschlichen Erfahrungen, die in Orhan Pamuks Literatur immer wiederkehren, und die der Autor gegen die polarisierenden Kräfte der Politik ins Treffen führt - aus dem selben Antrieb, aus dem er auch als Verfechter der Menschenrechte und starker Kritiker der türkischen Regierung auftritt. Es mache ihn traurig, erklärte Pamuk jüngst in einem Interview, dass es durch den Terror religiöser Fundamentalisten derzeit eher nach einem Zusammenprall der Zivilisationen aussehe als nach der von ihm angestrebten humanen Verständigung.

Service

Orhan Pamuk, "Das Museum der Unschuld", Hanser 2008, Fischer-Taschenbuch 2011

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