Prämiertes Animationsdrama "Anomalisa"

Den New Yorker Filmemacher Charlie Kaufmann kennt man vor allem als Drehbuchautor von Filmen wie "Being John Malkovich" und "Eternal Sunshine of the Spotless Mind". Jetzt kommt seine zweite Regiearbeit in die heimischen Kinos: "Anomalisa", ein Animationsfilm für Erwachsene, den Kaufmann gemeinsam mit dem Animationsfilmemacher Duke Johnson realisiert hat.

Bei den Filmfestspielen von Venedig wurde der über Crowdfunding finanzierte Film 2015 mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet, und er ist auch für den Oscar in der Kategorie "Bester Animationsfilm" nominiert.

Morgenjournal, 19.1.2016

"Einer der wohl außergewöhnlichsten Animationsfilme der letzten Jahre"

Ein Mann geht auf Geschäftsreise, mit seinen Ängsten, Neurosen und Sehnsüchten. Er telefoniert, schaut Fern, hat Sex. "Animare" heißt "zum Leben erwecken". Aber nur selten gelingt es in Animationsfilmen tatsächlich, den wie hier in Stop-Motion-Technik animierten, also Bild für Bild abfotografierten Puppen, tatsächlich so viel Seele einzuhauchen, wie bei "Anomalisa".

Dabei sind die Puppen im Film als solche erkennbar: eine Trennlinie durch das Gesicht markiert eine jener Bruchstellen, an denen die handgefertigten Puppen in ihren beweglichen Einzelteilen zusammengeschraubt sind. Regisseur Charlie Kaufmann: "Wenn man sich heute Stop-Motion-Filme anschaut, erkennt man sie oft gar nicht als solche, weil die Oberflächen digital nachbearbeitet werden. Man weiß nicht, was man da wirklich sieht. Und wir wollten, dass diese Erfahrung nicht verloren geht."

Jede Person hat einen Körper heißt es im Trailer, und in diesem Film haben die Puppen auch Genitalien. Aber bis es zu einer der wohl intimsten, zärtlichsten und explizitesten Sexszenen des Kinojahres kommt, muss Michael Stone, der Autor eines Bestsellers zum Thema Kundenservice, noch einiges hinter sich bringen. Zur Routine gewordene Skype-Gespräche etwa, oder ein Treffen mit seiner Ex-Frau. Und: er muss erst noch Lisa begegnen.

Die Puppen im Film schauen dabei alle ähnlich aus, stammen aus derselben handgefertigten Vorlage, und alle - egal ob Frauen oder Männer, haben auch dieselbe Stimme. Hauptfigur Michael Stone leide am Fregoli-Syndrom, erklärt Charlie Kaufmann: "Er glaubt, dass jede andere Person dieselbe Person ist. Ich nutze das gewissermaßen als humoristische Ebene, symbolisch und metaphorisch."

Intime Bilder und brillante Dialoge

Einzig die schüchterne Lisa ist anders, sie ist die Anomalie in Michaels Welt. Kaufmann und Johnson bringen dabei jene Szenen auf die Leinwand, die sonst im Kino oft ausgespart werden. Die vermeintlichen Banalitäten des Alltags, in denen die Figuren sich von A nach B bewegen, oder mit sich alleine sind. Momente, die aber zugleich oft unverfälschter sind, als die kontrollierten Augenblicke im Rampenlicht. In intimen Bildern und brillanten Dialogen werden so menschliche Abgründe ausgeleuchtet, wird Entfremdung durch Routine und Einsamkeit unter den polierten Oberflächen der Gesellschaft thematisiert. Und es ist typisch für den Neurosenexperten Charlie Kaufmann, dass man in den tristen Momenten immer auch Lachen darf, nie über die Figuren, sondern mit ihnen.

Dabei ist "Anomalisa" über Crowdfunding finanziert worden. Man habe sich die volle Autonomie bei der Umsetzung bewahren wollen, so Co-Regisseur Duke Johnson. Das Ergebnis ist einer der wohl außergewöhnlichsten Animationsfilme der letzten Jahre, alles andere als jugendfrei erzählt, kein Film für die ganze Familie.

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