Bibelessay zu Deuteronomium 26, 4 – 10

Aus der Heiligen Schrift der Juden, der Tora, ist dieser Abschnitt einer ihrer bedeutendsten. Es ist ein Text aus dem 5. Buch Mose, das christlich auch Deuteronomium genannt wird.

Die katholische Kirche eröffnet mit ihm dieses Jahr die Lesungen der Sonntage der Fastenzeit, eine Zeit, die auf Ostern vorbereitet. Die Mitte bildet ein Glaubensbekenntnis, das die Form eines Dankliedes hat: „Not – Hilferuf – Erhörung – Rettung“. Es beginnt mit den Worten: „Mein Vater war ein heimatloser Aramäer.“

Durch die Formulierung in erster Person Einzahl werden alle, die diesen Text hören oder lesen, ausdrücklich eingeladen, sich damit zu identifizieren. Der Text lädt auch ein, ähnliche Erfahrungen im eigenen Leben zu entdecken und wahrzunehmen: „als Fremder leben“, „schlecht behandelt werden“, „rechtlos gemacht werden“, „zu Gott schreien und von ihm befreit werden“. Das führt zum großen Dank für die geschenkte Freiheit und das Leben im Wohlstand.

Die Identifikation mit dem Beter lässt die eigene Lebens- und Familiengeschichte befragen: „Wo und wann bin ich in irgendeiner Form in Lebensnot geraten? Wer oder was hat mir geholfen? Welche Rolle spielt Gott für mich in solchen Situationen? Ist er mir auch zum Rettungsanker geworden? Oder habe ich es nicht gewagt, zu ihm zu schreien? Vielleicht aus falsch verstandener christlicher Zurückhaltung?“

Der Blick auf Ostern ist geleitet von der Frage „Was lässt uns gut leben?“ Dieser Text hilft, eine Antwort zu erinnern: In der Geschichte erweist sich Gott als großer Befreier, dem letztlich alles zu verdanken ist.

Was ich bisher aber noch gar nicht bedacht habe, ist: Der Text ist das kleine geschichtliche Glaubensbekenntnis des Volkes Israel und der Vater ist der Erzvater Jakob, der auch Israel genannt wird. In der jüdischen Tradition wird dieser Text zu Pessach, dem Fest der wunderbaren Errettung aus der Knechtschaft Ägyptens, beim Sedermahl erinnert. Im Bekenntnis wird die Geschichte erzählt, vergegenwärtigt und überliefert. Dabei übersetzt die jüdische Tradition den ersten Satz, gedeckt durch die jahrhundertelangen Erfahrungen des jüdischen Volkes, mit: „Der Aramäer wollte meinen Vater vernichten.“ Deshalb zog er nach Ägypten.

„Als Fremder leben“ – das war auch in Ägypten ein gesicherter Rechtsstatus. Fremde sind nicht einfach Freiwild, das nach Belieben ausgebeutet oder abgeschoben werden darf.

Die Situation, in der sie zum Himmel schreien, ist nicht, weil sie in der Fremde leben, sondern weil sie als Fremde entrechtet worden sind durch schlechte Behandlung und wirtschaftliche Ausbeutung. Aber der Gott ihrer Väter hörte das Schreien und sah die Rechtlosigkeit „und führte uns aus Ägypten in dieses Land“, wie es im Text heißt.

Dieses kleine geschichtliche Glaubensbekenntnis des Volkes Israel ist in der Tora eingebettet in eine Erntedankfeier. Die „ersten Erträge von den Früchten des Landes“ werden dargebracht. Sie gehören Gott. Israel ist ein aus Not und Unterdrückung entstandener Verband. Als solcher soll er sich nun seinerseits solidarisch gegenüber Marginalisierten zeigen. Deshalb ist das Thema der Fremden und deren Unterdrückung im Glaubensbekenntnis so fest verankert und auch danach. Gleich dann soll die Erntedankfreude auch den Leviten und speziell den „Fremdling, der bei dir lebt“ ergreifen. Doch diese „Freude“ wird ihn nur ergreifen, wenn sie mit solidarischem Teilen verbunden ist, weiß jedenfalls die Tora.