Die Vermessung der Welt

Musikalische Kartografien zum musikprotokoll 2016

Fünfzig vor Christus.
Ganz Gallien ist von den Römern besetzt. Ganz Gallien? …

Dreizehntes Jahrhundert.
Der Schalk, der niemanden, auch "gut situierte" Bürger nicht, verschont, hat einen Namen: Nasreddin Hodscha. Im Jahr 1284 stirbt - oder auch nicht - Nasreddin Hodscha im Osmanischen Reich. Sein Grabmal ist mit der schönen Inschrift "Hier ist die Mitte der Welt" versehen.

Dreizehnhundertsechzehn.
Der mallorquinische Philosoph, Theologe, Reisende und Logiker Ramon Llull stirbt (vermutlich auf der Fahrt von Tunis nach Mallorca, so genau weiß man das nicht.) Seine Schriften - wie die "Ars magna" - werden von der katholischen Kirche für lange Zeit auf den Index verbotener Bücher gesetzt.


Dreizehnhundertsechsundvierzig.
Baude Cordier wird in Reims geboren. Cordiers Liebeslied "Belle, Bonne, Sage" ist eines der schönsten Beispiele für Augenmusik, notiert in Herzform. Eine verliebte grafische Notation des 14. Jahrhunderts.

Achtzehnhundertsiebenundzwanzig.
Franz Schubert komponiert die "Winterreise". Die 1822 verbotene Leipziger Literaturzeitschrift "Urania" mit den Texten des Dichters Wilhelm Müller besorgt sich Schubert dafür auf illegalem Weg. Der Originaltitel lautet: "Winterreise. Ein Cyclus von Liedern von Wilhelm Müller. Für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte komponiert von Franz Schubert. Op. 89. Erste Abtheilung (Lied I-XII). Februar 1827. Zweite Abtheilung (Lied XIII-XXIV). October 1827."

Neunzehnhundertachtundsechzig.
"Halten verboten, Rauchen verboten, Eintritt verboten, Ausfahrt verboten, lange Haare verboten - Reden erlaubt: Hochgeehrte Versammlung, Herr Präsident, Herr Verwaltungsrat, am Beginn meiner Ausführungen, am Ende meines Vertrages, im Bewusstsein der Bedeutung, ein erhebender Augenblick, und es ist uns ein Bedürfnis, lang lebe das Brautpaar - Atombombentest." Mit einem furiosen, assoziativen Stakkato als Festrede eröffnet der Gründer des Festivals musikprotokoll, Emil Breisach, dessen erste Ausgabe.

Neunzehnhundertachtundsiebzig.
Nina Hagen veröffentlicht eine eineinhalbminütige absurde Songminiatur mit dem Titel "Fisch im Wasser": "Sie will ein Fisch im Wasser sein im flaschengrünen, tiefen See. Sie will mit Wasser sich besaufen und paar Blasen blubbern lassen. Was sie dann will, das ist mit Neptun schweigen und in Ruhe tun, was sie sonst nie tut. Was sie sonst nicht kann und soll-ll-ll. llos dnu nnak thcin tsnos ies saW ..."

Zweitausenddreizehn.
Zeitgenoss/innen und Kulturschaffende aus allen Sparten unterschreiben die Petition "Rettet das musikprotokoll". Denn wo, wenn nicht bei einem Festival für experimentelle und zeitgenössische Musik, könnte man denn sonst tun, was man sonst nicht kann und soll-ll-ll. Denn: Die spinnen, die nenni\reltsnüK …

September Zweitausendsechzehn.
(Auch) Graz ist eine "Mitte der Welt". Der steirische herbst startet.

Dreißigster September Zweitausendsechzehn.
Die ersten Vorboten des Festivals musikprotokoll erklingen: Das Denken des vor 700 Jahren verstorbenen Ramon Llull, der eine Art "Logikmaschine" erfunden hat, ist Inspiration für eine Klangkunstinstallation im Kunsthaus Graz. Das erste "Llullofon" der Welt geht in Betrieb.

Sechster Oktober Zweitausendsechzehn.
Die 49. Ausgabe des Festivals musikprotokoll startet. "Small is beautiful" lautet die Devise des Konzertabends im Dom im Berg, bei dem u. a. ein Soloauftritt von Blixa Bargeld auf dem Programm steht. 100 Jahre nach Begründung der Dada-Bewegung ist die hinter diesem Wort stehende Haltung für Blixa Bargeld keineswegs ein alter Hut, denn wie er in einem Interview einmal anmerkte: "Der zerstörerische Charakter ist heiter und freundlich, er kennt nur eine Devise: Platz schaffen."

Siebter Oktober Zweitausendsechzehn, nachmittags.
Auf dem Dach der Neuen Chemie in Graz trifft man sich. Die Moleküle orgeln. Oder: Endlich wieder spielt die Molekularorgel!

Siebter Oktober Zweitausendsechzehn, abends.
Size "does" matter, befinden wir heute Abend. Das RSO Wien und das Klangforum Wien sind gemeinsam in der Helmut-List-Halle zu erleben. Un concert grandiose! Auch der fast schon als legendär zu bezeichnende 85-jährige amerikanische Komponist Alvin Lucier ist in Graz zu Gast, sein neues Stück für vier Celli wird uraufgeführt. Und der Musiker Renald Deppe vermisst gemeinsam mit dem aus dem Iran stammenden Komponisten und Elektronikmusiker Hassan Zanjirani Farahani musikalisches Neuland. Inklusive Stör- und Nebengeräuschkalligrafie.

Achter Oktober Zweitausendsechzehn, nachmittags.
Wer an Arithmomanie, also Zählzwang leidet, sollte an diesem Nachmittag das musikprotokoll meiden. Grazer Schüler/innen präsentieren ihre, gemeinsam mit Künstler/innen erarbeiteten Werke, die sich mit musikalischen Zahlen auseinandersetzen. Was für eine never ending story, quasi eine liegende Acht.

Achter Oktober Zweitausendsechzehn, abends.
Stimmen, Stimmen, Stimmen. Vokalmusik aus dem 13., dem 14. und aus dem 21. Jahrhundert im akustischen Spiegelkabinett: Das Vokalensemble Nova und sieben Komponist/innen begeben sich gemeinsam auf die Spuren des mittelalterlichen Logikers Ramon Llull und überprüfen "die Logik der Engel". Auch eine der verliebten, mittelalterlichen grafischen Notationen von Baude Cordier wird dabei mit Stimmen erfüllt. Davor: Die Komponisten Bernhard Lang und Gerhard E. Winkler beschäftigen sich - jeder auf seine Art - mit Schuberts "Winterreise". Ein cold trip mit Frostblues! Aufwärmen kann man sich davor: Vormittag um 10.05 Uhr beim "Ö1 Klassik-Treffpunkt" live aus dem Kunsthaus Graz. Aufwärmen kann man sich auch danach, wenn das Elektronik-Stimme-Duo Demi Broxa des nächtens das Publikum mit seinen abstrakten und ebenso körperlichen Klangtexturen einhüllt. Eines der heute gespielten Werke ist übrigens der bereits zum vierten Mal vergebene Emil-Breisach-Kompositionsauftrag: Reden nach wie vor erlaubt.

Neunter Oktober Zweitausendsechzehn.
Und schließlich das Paradies. Das Mumuth in Graz wird zum musiktheatralischen Stationentheater, "Paradise" nennt Martin Hiendl seine Operninstallation. Final feiern Radio und Kunst ihre Vetternschaft - im ORF Kunstradio - mit einer Liveperformance der tunesischen Musikerin Deena Abdelwahed. Kulturelle Kartografien gehören gehört.

Dreißigster Oktober Zweitausendsechzehn.
Heute ist die allerletzte Gelegenheit: Das Llullofon ist im Kunsthaus Graz zu hören, zu sehen und zu bewegen. Nichts wie hin!

Oktober und November Zweitausendsechzehn.
Die Aufnahmen vom ORF musikprotokoll sind in vielen Ö1 Sendungen nachzuhören oder noch einmal zu erleben. Vor allem in der Sendereihe "Zeit-Ton".

Oktober ZweitausendSiebzehn.
Ein gallisches Dorf im Österreichischen Rundfunk: Das ORF musikprotokoll im steirischen herbst wird 50!

Text: Elke Tschaikner, Leiterin der Ö1 Musikredaktion
und des ORF musikprotokolls im
steirischen herbst

Service

Ö1 Club-Mitglieder bekommen beim musikprotokoll ermäßigten Eintritt (bis zu -50%).

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