Franco "Bifo" Berardi
Massenmord und Suizid
Mord und Selbstmord – sind das nicht zwei entgegengesetzte Phänomene? Nicht immer und immer weniger, findet Franco "Bifo" Berardi. Sein neues Buch trägt den Titel "Helden. Über Massenmord und Suizid". In diesem nimmt er Selbstmorde in verschiedenen Kulturen unter die Lupe, von US-amerikanischen Amokläufern bis zu islamistischen Attentätern, von indischen Bauern, japanischen Hikikomori und Angestellten der privatisierten France Telecom bis zu Bankern.
8. April 2017, 21:58
Kontext, 1.7.2016
Kirstin Breitenfellner
Unser noch junges Jahrhundert begann mit einem monumentalen Selbstmord, der zugleich ein Massenmord war: mit dem Anschlag auf das World Trade Center vom 11. September 2001. Er erwies sich als ansteckender Virus, meint Franco "Bifo" Berardi und zitiert die Weltgesundheitsorganisation, nach der Selbstmord heute nach Autounfällen die zweithäufigste Todesursache bei jungen Menschen darstellt.
Die Keimzelle von Berardis Buch bildete der Amoklauf während der Premiere des Batman-Films in Aurora im Jahr 2012, der auf das Publikum anfangs wie ein Werbegag wirkte und anhand dessen Berardi den Zusammenhang von Mord, Selbstmord, Medien und Kunst aufzeigt. Bereits die Amokläufer an der Columbine High School von 1999 hatten sich Hollywood-Regisseure zum Vorbild genommen. Und Seung-Hui Cho, der 2007 an der Virginia Tech in Blacksburg 32 Menschen tötete, filmte seine Bluttaten gleich selbst und schickte das Video an den Sender NBC – als Produzent, Regisseur, Hauptdarsteller und Vertrieb in Personalunion.
Berardi durchleuchtet diese Schreckenstaten bis ins Detail, weil er überzeugt davon ist, dass sich das "Werden unserer heutigen Welt" besser verstehen lasse, wenn man sich mit ihnen auseinandersetzt, anstatt sich ausschließlich mit Politik und Ökonomie zu beschäftigen. Er nimmt die Aussagen und Ideen der Täter ernst, beleuchtet ihre nicht nur durch Computerspiele gestörte Emotionalität und fragt dann erst nach den Ursachen.
Sein Buch ist ein Wurf, fulminant, erhellend und verstörend, Berardi nennt es bisweilen selbst schrecklich. Es fügt Phänomene, die allgegenwärtig sind und nicht zueinander zu passen scheinen, wie Puzzlesteine zusammen.
Service
Franco "Bifo" Berardi, "Helden. Über Massenmord und Suizid. Aus dem Italienischen von Kevin Vennemann", Matthes und Seitz