Bibelessay zu Dtn 30,10-14

Was eben zu hören war, aber nicht in der Bibel steht, darauf will ich aufmerksam machen.

Mose sprach zum Volk: "Du sollst auf die Stimme des Herrn, deines Gottes, hören und auf seine Gebote und Gesetze achten, die in dieser Urkunde der Weisung einzeln aufgezeichnet sind. Du sollst zum Herrn, deinem Gott, mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele zurückkehren." Das war gerade zu hören und wird heute in allen katholischen Gottesdiensten so gelesen. Als Quelle wurde das Buch Deuteronomium, das fünfte Buch Mose, 30. Kapitel, Vers 10 genannt. Doch das stimmt nicht, denn genau so steht es hier eben nicht in der Bibel: "Du sollst!" Es zählt zu den Schwächen der Kirche, das Sollen und Müssen in den Vordergrund zu stellen, auch wo es nicht angemessen ist. So wird aus einer biblischen Mystik durch das dominante Sollen und Müssen ein geistloser und lebensfeindlicher "Müsstizismus". Aber von Sollen und Müssen haben Menschen eigentlich schon genug.

Doch was steht hier nun tatsächlich in der Bibel? Die katholische Einheitsübersetzung überträgt den hebräischen Originaltext so: "…wenn du auf die Stimme des Herrn, deines Gottes, hörst und auf seine Gebote und Gesetze achtest, die in dieser Urkunde der Weisung einzeln aufgezeichnet sind, und wenn du zum Herrn, deinem Gott, mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele zurückkehrst." Keine Rede von "Du sollst!" Noch pointierter formuliert es die "Bibel in gerechter Sprache": "Ja, du hörst auf die Stimme" Gottes. "Ja, du kehrst mit Herz und Verstand, mit jedem Atemzug" zu Gott zurück. Das verlockt natürlich, nachzulesen, was vor diesem "wenn" und diesem "Ja!" steht, was diesem den Grund gibt. In der sogenannten Einheitsübersetzung ist zu lesen: "Denn der Herr wird sich, wie er sich an deinen Vätern gefreut hat, auch an dir wieder freuen. Er wird dir Gutes tun,…"

Die Erinnerung an Gottes Zuwendung und Liebe ist verbunden mit der Zusage, die Tora zu halten. Was hier in der bedrückenden Zeit des babylonischen Exils als Abschiedsrede des Propheten Mose konzipiert worden ist, will Israel Trost und Hoffnung geben. Es macht deutlich: Bei der Tora geht es nicht um fremde, einengende Vorschriften, denen sich Israel unterwerfen muss, sondern um eine Weisung Gottes für ein gutes Leben. "Er wird dir Gutes tun." Oder anders formuliert: "Es wird dir gut tun, dich an die Weisung Gottes zu halten."

Für den frommen Juden ist die Tora ein Geschenk des Ewigen, das im Innersten des Menschen lebendig ist, ihm in den Mund und ins Herz gelegt ist. Dabei geht es nicht um eine übermenschliche Leistung oder die Verwirklichung eines heroischen Ideals. Der Ewige gibt auch die Kraft, seine Weisung zu lernen, zu verstehen und danach zu leben. Deshalb heißt es am Schluss nicht, "Du sollst es halten!", sondern "Du kannst es halten."