Bibelessay zu Genesis 18, 20 – 32

Sodom und Gomorra heizen seit jeher die Fantasien von Menschen an. Das ist kein Zufall. Weder die genaue Wortbedeutung noch die Lage dieser Städte ist bekannt. Man ist also gleichsam auf freiem Feld und kann Sodom und Gomorra immer wieder neu erfinden und sich ausdenken – als Stätten des Exzesses.

Das Maßlose von Exzessen ist der Hintergrund der ersten Lesung an diesem Sonntag in den katholischen Kirchen. Ihren Kontrast bildet Abraham – kein Stadtbewohner, kein Ahnherr reicher, verwegener Nachkommenschaft, kein Magnat, kein Potentat, keiner, der sich der Magie des ständigen Wachstums verschrieben hat, sondern ein eher einsamer Mann mit einer Frau, die bisher kinderlos blieb, wohl eine Art Beduine, der zwar gut leben kann, aber nichts von der städtischen Maßlosigkeit ausübt.

Um diesen Kontrast zu erkennen, wäre es gut, wenn dieser Lesung noch die drei unmittelbar vorausliegenden Verse vorangestellt worden wären. In ihnen wird erzählt, Gott habe versprochen, Abraham werde zu einem großen, mächtigen Volk werden, das sich an den Weg des Herrn hält, und durch ihn werden alle Völker der Erde Segen erlangen. Abraham wird also allen zum Segen werden – eine unglaublich starke Ansage. Dieser Ansage widerstreitet kaum etwas so sehr – als eben Sodom und Gomorra, dieses zweifache, riesige Sündenloch.

Und was tut Abraham? Er macht es wie später Jesus auch. Er geht in die Stadt, sieht dort alles, was man unter sex and crime zusammenfassen kann – und dreht sich nicht um, um sie zu verlassen. Abraham beginnt nun seinen Handel mit dem Gott, der ihn als Gegenüber zu dieser verruchten Gesellschaft auserwählt hat. Grandios, was hier geschieht: Von 50 Gerechten handelt Abraham auf 10 Gerechte herunter. Wenn sie in Sodom und Gomorra zu finden sind, dann wird Gott die Städte nicht verwüsten.

Zehn Gerechte sollten doch leicht zu finden sein. Lapidar wird am Schluss daher erzählt, dass beide, Gott und Abraham, von ihrer Verhandlung weggegangen sind, offenbar jeder halbwegs zufrieden. Zehn Gerechte sollen also zum Segen werden für diese verfluchte Gesellschaft.

Gerecht sind die, die immer und eben auch in Sodom und Gomorra noch wissen, dass der Exzess kein Gott ist, sondern ein Verhängnis. Seine Verheißungen sind falsch: Der Exzess steigert nicht das Leben, sondern zerstört Menschen. Gerecht sind die, die sich an den Gott des Bundes halten, auch wenn um sie herum der Exzess wogt und tobt und seine Versprechen sich viel rascher scheinbar erfüllen. Gerecht sind die, die in Fieber und Hitze um sie herum nicht aufhören, allein oder im Gottesdienst zu Gott zu beten – auch wenn das keinen Hype verspricht.

Zehn sollen es sein, war zu hören. Das nun ist genau die Mindestgröße einer jüdischen Gebetsversammlung. Und so schließe ich daraus – als katholischer Christ, der ich bin: Abraham wird zum Segen für die Völker, wenn es unter ihnen jüdische Gebetsversammlungen gibt und mein Beten durch deren Beten gesegnet und mitgenommen wird. Das macht meine Verbindung zu Israel lebendig, die ja ausschließlich über den Juden Jesus läuft. Und mit ihm bete ich zum selben Gott, mit dem Abraham in Sodom und Gomorra verhandelt hat und dessen Versprechen, das Abraham gilt, auch mir als Christen zum Segen wird: Durch Abraham und die zehn Gerechten einer jeden jüdischen Gottesdienstversammlung hat Gott auch mich gesegnet – an allen Orten, zu allen Zeiten und in meiner Kirche.