Martin Luther, die Reformation und die Folgen

Hier stehe ich

Jede neue Bewegung hat einen Gründungsmythos. Zumal, wenn es um Religion geht. Das gilt auch für den Protestantismus, eine Spielart des Christentums, die ihren Anfang im frühen 16. Jahrhundert nahm. Genau genommen am 31. Oktober 1517 in der kleinen, aber nicht unbedeutenden Stadt Wittenberg, einer zu jener Zeit kurfürstlichen Residenz, in der Friedrich der Weise 1502 eine Universität gegründet hatte.

Martin-Luther-Statue in Wittenberg

Martin-Luther-Statue in Wittenberg

ORF/BBC/JANE MAYES

Dort, an die Tore der Schlosskirche, soll an jenem Tag ein rappeliger Augustinermönch namens Martin Luther aus Zorn über den infamen Ablasshandel der kirchlichen Geistlichkeit 95 Thesen genagelt haben. Schon als Kind habe ich mir überlegt, wie groß denn diese Tore gewesen sein müssen, damit auf ihnen 95 Thesen Platz finden konnten.

Für den Papst und den Erzbischof

Längst hat sich herausgestellt – und das beruhigt das evangelische Kind in mir –, dass es so nicht gewesen sein kann. Luther, zu jener Zeit 34 Jahre alt und Professor für "Lectura in Biblia", also Bibelauslegung an der Wittenberger Universität, hatte schon 1516 gegen den Ablasshandel gepredigt. Im Sommer 1517 nun las der Sohn einer aufstrebenden Bürgerfamilie aus Mansfeld die vom Mainzer Erzbischof Albrecht von Brandenburg verfasste "Instructio Summarium", eine Anweisung für die im Land umherreisenden Ablassprediger.

Mit dem so erworbenen Geld sollten zwei Aufgaben erledigt werden: 50 Prozent gingen an Papst Leo X., einen Medici-Papst, der damit den Petersdom in Rom bauen wollte. Die anderen 50 Prozent wollte sich Albrecht selbst behalten: Er hatte Schulden bei den Fuggern, einem schwäbischen Kaufmannsgeschlecht aus Augsburg mit Spezialgebiet Geldverleih, das zu jener Zeit fast die ganze Welt, jedenfalls aber Europa beherrschte.

Geld für Vergebung

Luther, der von vielen seiner aktuellen Biografen als ein in gewisser Weise naiver, dafür aber umso zornigerer und gewissenhaft polternder spiritueller Rebell gezeichnet wird, wollte in guter scholastischer Tradition mit den geistlichen Herren disputieren. Er wollte Argumente auf den Tisch legen, die sich sowohl aus der Vernunft als auch aus dem Glauben heraus begründen ließen. Dass es im Hintergrund um gewaltige Machtspiele zwischen dem Kaisertum in Person des späteren Karl V. einerseits und der päpstlichen Macht in Person des Papstes Leo X. andererseits ging, war dem tiefgläubigen Mönch nicht nur egal, sondern nicht einmal bewusst.

So verfasste er also seine 95 Thesen. Darunter diese hier: "Warum kann ein gottloser Mensch gegen Geld Sünden vergeben?" Oder: "Warum baut der reiche Papst den Petersdom nicht wenigstens von seinem Geld?" Die schickte er als Beilage zu einem Brief an den Erzbischof von Mainz. Als jener nicht antwortete, verteilte Luther einige Exemplare an Freunde, so zum Beispiel an den jungen Wilhelm Nesen, einen Humanisten und Pädagogen, Schüler des Erasmus von Rotterdam, der die Thesen ohne Luthers Wissen in der akademischen Welt weitergab.

Nun, wie auch immer es gewesen sein mag: Die 95 Thesen brachten einen großen Unmut zum Ausdruck in jener Zeit der gewaltigen gesellschaftlichen Umbrüche. Was folgte, war ein Jahrhundert von Kriegen, das erst mit dem Westfälischen Frieden von 1648 sein vorläufiges Ende fand.

Ein Modernisierungsschub

Was die Reformation auch brachte, war das sich seiner selbst bewusst werdende Individuum, das so wie Luther 1521 auf dem Reichstag zu Worms den Herrschern entgegenruft: "Hier stehe ich und kann nicht anders!" Manche Forscher/innen meinen zwar, auch dieser Ausruf gehöre ins Reich der Mythen und Legenden. Aber dass die Reformation einen – wie der Journalist Willi Winkler in seiner großartigen Luther-Biografie "Luther. Ein deutscher Rebell" schreibt – "wahren Modernisierungsschub in Kunst und Alltagsleben, Literatur, Wissenschaft und Publizistik" auslöste, lässt sich nun einmal nicht leugnen.

Und Luther selbst, der entlaufene Augustinermönch, der alles wollte, nur keine neue Kirche gründen, ist sicherlich eine der herausragenden Figuren der europäischen Geschichte. Und das trotz seines unheilvollen Erbes, das er auch über Deutschland ausschüttete: seines tief gehenden Antisemitismus. Wo aber steht der Protestantismus heute? Birgt er noch die revolutionäre Sprengkraft in sich, die einst ganz Europa auf den Kopf stellte.

"Am Anfang war das Wort" – unter diesem Motto steht das Reformations-Jubiläumsjahr, das am 31. Oktober 2016 seinen Anfang nahm und am 31. Oktober 2017, 500 Jahre nach dem Wutausbruch des zornigen Mannes aus Wittenberg, enden wird. Ö1 wird während des gesamten Jahres das Thema immer wieder aufnehmen und es aus vielen verschiedenen Perspektiven beleuchten.