Theater-Provokateur Romeo Castellucci an der Opéra de Lyon

Er brachte eine Wachkoma-Patientin via Video-Livestream auf die Bühne und ließ im Berliner „HAU“ den Geruch von Exkrementen aufsteigen. Der italienische Regisseur Romeo Castellucci scheut sich nicht davor, die Grenzen des guten Geschmacks zu sprengen. Jetzt beschäftigt er sich mit Frankreichs Nationalikone Jeanne d´Arc.

Romeo Castellucci

LUCA DEL PIA

Sie schnauft, schleift Bretter über die Bühne, schreit, atmet, hadert mit ihrem Schicksal und liegt am Ende nackt auf der Bühne – ausgebreitet wie der Leichnam einer gotischen Pietà. In seiner Inszenierung von Arthur Honeggers szenischem Oratorium „Johanna auf dem Scheiterhaufen“ sucht der italienische Regisseur Romeo Castellucci, die Frau Johanna, die hinter dem Mythos Jeanne d´Arc verschwindet. „Diese Figur ist einzigartig. Jeanne d´Arc wurde zu einem Opfer der Ideologien. Mittlerweile ist sie ein Symbol der Xenophobie. Jede Epoche hat eine neue Jeanne d´Arc erfunden. Der Schweizer Komponist Arthur Honegger zeichnet ein anderes Bild von Jeanne d´Arc. In seinem Oratorium ist sie kein Symbol, keine Statue, sondern ein Mensch“, so Castellucci.

Das nackte Leben

In Frankreich kennt sie jedes Schulkind. Als Heerführerin, als Heilige, als Häretikerin, die 1431 am Scheiterhaufen brennt. Man übertreibt nicht, wenn man festhält, dass es wohl keine französische National-Ikone gibt, die öfter in Beschlag genommen worden ist als sie. Die einen sehen in der bewaffneten Jungfrau hoch zu Ross eine Pionierin des Feminismus, die anderen machen aus ihr eine Vorkämpferin nationaler Selbstbestimmung. Schließlich war es Jeanne d´Arc, die dabei geholfen hat, die Engländer am Ende des Hunderjährigen Krieges vom französischen Festland zu vertreiben.

Seit Jean-Marie Le Pen gedenkt der Front Nationale am 1. Mai der Nationalikone Jeanne d´Arc. Weil man – so der einstige Parteivorsitzende – den 1. Mai nicht der Linken überlassen wolle. Seine Tochter, die aktuelle Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen, hat diese Tradition fortgesetzt. „Nein zu Brüssel! Ja zu Frankreich!“ Der Mythos vom einfachen Bauernmädchen lässt sich vor viele Karren spannen.

„Natürlich ist es kein Zufall, dass wir dieses Werk jetzt, weniger Monate vor der Präsidentschaftswahl programmiert haben. Die Oper soll sich einmischen und an der politischen Debatte teilnehmen“, so Serge Dorny, Intendant der Opéra de Lyon. Die Oper, solle sich in aktuelle Diskussionen einschreiben, ohne allzu plakativ zu werden, sagt er.

Ein Beitrag zum Wahljahr 2017

In seiner Inszenierung von Arthur Honeggers szenischem Oratorium „Johanna auf dem Scheiterhaufen“, vollendet 1935, beschreitet der italienische Theatermacher Romeo Castellucci unorthodoxe Wege. Das ist man vom ihm gewöhnt.

Opernkenner und Opernkennerinnen wird er in seiner Arbeit für die Opéra de Lyon womöglich dennoch verprellt haben. Das liegt zunächst an der Entscheidung, praktisch das gesamte Ensemble sowie den stimmgewaltigen Chor des Oratoriums von der Bühne zu verbannen. Die Stimmen der Solisten und des Chores sind nur über Lautsprecher zu hören. Wie immer hat Romeo Castellucci – abgesehen von der musikalischen Leitung – auch in dieser Inszenierung alles selbst in die Hand.

Er zeichnet für die Regie verantwortlich, für das Lichtdesign und auch das Bühnenbild stammt von ihm. „Mir käme es bizarr vor, wenn jemand anderer das Bühnenbild entwerfen würde. Der Raum macht 80 Prozent der Inszenierung aus. Für mich fließen die einzelnen Kunstsparten ineinander. Es kommt mir natürlich vor, alles zu machen, alles im Blick zu haben. Ich bin kein Kontrollfreak! Mir geht es darum, dass eine künstlerische Sprache alle Elemente der Inszenierung vereint. Deshalb ist diese Personalunion für mich die beste Lösung“, so Romeo Castellucci.

„Ich bin kein Kontrollfreak!“

Romeo Castellucci macht „Johanna auf dem Scheiterhaufen“ zu einer One-Woman-Show. Solisten und Chor hört man aus dem Off, also via Lautsprecher, oder aus den Theatergassen. Das erzeugt den Eindruck, als würde Johanna zum Opfer einer halluzinatorischen Heimsuchung. Romeo Castellucci erzeugt Bilder von großer Suggestionskraft, die aus der Kunstgeschichte entlehnt sind.

Die Verletzlichkeit des nackten ausgezehrten Körpers, die hier von der französischen Schauspielerin Audrey Bonnet auf die Bühne gebracht wird, erinnert an den gekreuzigten Christus in der Gotik. Castellucci erweitert die klassische Bildsprache der Malerei mit den Mitteln der Body-Art. Das schafft eindrückliche Momente, die unter die Haut gehen. Trotzdem wird sich der Regisseur die Frage gefallen lassen müssen, ob hier die Musik für einen Regie-Einfall geopfert worden ist.