Roman von Dacia Maraini

Das Mädchen und der Träumer

Die heute 80-jährige Dacia Maraini zählt zu den bekanntesten Autorinnen Italiens. Systematisch setzt sie sich mit Frauenrechten, mit Vergewaltigung und Prostitution auseinander. Diese Themen klingen auch in ihrem jetzt erschienenen Buch "Das Mädchen und der Träumer" an.

Weiße Tauben um den Kopf eines jungen Mädchens

FOLIO VERLAG

Kulturjournal, 21.2.2017

Ein Mann erzählt

Das "Mädchen und der Träumer" ist ein Roman mit neuen Aspekten - auch für die Autorin selbst. Erstmals erzählt Dacia Maraini eine Geschichte aus der Perspektive eines Mannes. "Ich habe kürzlich bei einem Besuch einer Volksschule junge Lehrer getroffen - Männer sind ja dort inzwischen eine Seltenheit. Diese Lehrer haben mich inspiriert. Sie hatten eine derartige Leidenschaft für den Unterricht, dass mir die Idee gekommen ist, einen Lehrer in den Mittelpunkt zu stellen."

Am Anfang des Romans steht ein Traum. Nani Sapienza, ein vierzigjähriger Lehrer in einer italienischen Kleinstadt, dessen kleine Tochter an Leukämie verstorben ist, träumt von einem Mädchen; glaubt, es ist seine tote Tochter. Einmal wach stellt er fest, dass dieses intensive Traumerleben auf eine reale Geschichte verweist. Eine Schülerin ist verschwunden. Der Lehrer begibt sich auf die Suche, lässt nicht locker, auch dann nicht, als sogar die Polizei das Mädchen für tot hält. So stößt er auf einen weiteren Fall.

Bruchstücke der Wirklichkeit

"Das gekidnappte Kind sowie das andere Kind, das in einem asiatischen Bordell landet - das sind wahre Geschichten, die von Amnesty International erfahren habe", sagt die Autorin, die mit der Organisation schon viele Jahre zusammenarbeitet. "Sie informieren mich über Chronik aus der ganzen Welt."

Inspiriert habe sich Dacia Maraini an verschiedenen Fällen - darunter auch am Fall Natascha Kampusch. "Einen Menschen besitzen wollen, so als wäre er ein Gegenstand oder ein Vogel im Käfig: das ist grauenvoll. Das ist, als würde man einen Menschen töten. Dieser Fall hat mich daher sehr erschüttert."

Für europäische Bordelle

Auch Dacia Marainis Hauptfigur recherchiert. Nani, von seiner Frau nach dem Tod der Tochter verlassen, wird zum Detektiv. Minutiös dokumentiert er alles und entdeckt Ungeahntes: In Italien verschwinden Jahr für Jahr viele Menschen. 27.000 waren es zwischen 1974 und 2014. Darunter 11.565 Kinder. Manche Mädchen werden ins Ausland gebracht - sagt Dacia Maraini - und zur Prostitution gezwungen.

"Viele Mädchen werden entführt und in Bordelle gebracht. Leider sind es aber oft Europäer, die dorthin gehen. Sie sind sich gar nicht bewusst, dass sie dadurch Komplizen der Sklaverei - der Versklavung dieser Mädchen -, des Menschenhandels werden. Das ist furchtbar."

Wohin steuert die Gesellschaft?

Dacia Marainis Roman beleuchtet viele Aspekte. Und vor allem die Frage: wohin steuert unsere immer mehr fragmentierte Gesellschaft? Da sei auch die Literatur gefragt: "Ich bin überzeugt, dass auch Schriftsteller die Aufgabe haben, die Realität - selbst die schrecklichsten Aspekte - bekannt zu machen. Denn die Menschen müssen sich dessen bewusst werden. Ohne das Bewusstsein wird sich nichts ändern."

"Das Mädchen und der Träumer" - ein Roman über die Brüchigkeit der scheinbar sicheren Welt einer Kleinstadt. Und doch - und auch das ist neu für Dacia Maraini - mit einem Happy End.

Service

Dacia Maraini, "Das Mädchen und der Träumer", Roman, aus dem Italienischen von Ingrid Ickler, Folio
Originaltitel: "La bambina e il sognatore"

Dacia Maraini