"Elle" - Paul Verhoevens prämierter Thriller
Paul Verhoeven hat einen fesselnden Psychothriller inszeniert, der mit messerscharf geschriebenen Dialogen, zwischen Gewaltphantasien und bitterböser Gesellschaftssatire, die Rationalität emotionaler Reaktionen aufhebt und hinterfragt.
11. Juli 2017, 02:00
Mit Filmen wie "Türkische Früchte" machte er sich als europäischer Filmautor einen Namen, mit dem Erotikthriller "Basic Instinct" provozierte und faszinierte er 1992 Hollywood, er bespielte mit Filmen wie "Total Recall" das Science-Fiction-Genre, und kehrte mit seinem Weltkriegsdrama "Blackbook" Anfang der Nullerjahre wieder zurück nach Europa: Der mittlerweile 78-jährige Altmeister Paul Verhoeven. Sein jüngster Film "Elle" kommt diese Woche in die heimischen Kinos.
FILMLADEN
Morgenjournal, 22.2.2017
Lust am Kontrollverlust
Die Leinwand noch schwarz, hört man das Stöhnen einer Frau, aber erst wenn Verhoeven sie am Boden liegend zeigt, auf ihr ein maskierter Mann, lässt er erahnen, dass das kein einvernehmlicher Liebesakt, sondern eine Vergewaltigung ist. Die Frau wird danach aufstehen, aufräumen, ihr Leben einfach weiterleben, die Opferrolle verweigernd.
Eine emotionale Gleichgültigkeit, die noch mehr verstört, als die Brutalität der Vergewaltigung. Und da ist sie wieder: Paul Verhoevens Lust am Kontrollverlust, am Ausleuchten sexueller und moralischer Tabus. Mit "Elle" hat Verhoeven einen fesselnden Psychothriller inszeniert, der mit messerscharf geschriebenen Dialogen, zwischen Gewaltphantasien und bitterböser Gesellschaftssatire, die Rationalität emotionaler Reaktionen aufhebt und hinterfragt. Mehr als bei jedem anderen Film, überlasse er es in "Elle" dem Publikum, das Handeln der Figuren zu interpretieren.
Isabelle Hupperts Paraderolle
Michelle leitet eine Computerspielfirma, spezialisiert darauf, Gewalt und Sexualität in der virtuellen Realität so greifbar wie möglich zu machen. Eine Frau unnahbar, geschäftlich wie privat, die ihre Fassaden zu bespielen weiß, und Gewalteinbrüchen so emotionslos begegnet, als wäre sie selbst eine Figur in einem Computerspiel, darauf gespannt was als nächstes passiert.
Eine Figur, die Isabelle Huppert in einer Paraderolle, zum unberechenbaren Zentrum des Films macht: "Paul Verhoeven gibt keine Erklärungen. Es geht um das Reagieren, oder eigentlich Nicht-Reagieren der Figur auf Ereignisse: Die Unvorhersehbarkeit ihrer emotionalen Reaktionen. Das erzeugt Spannung auch innerhalb der Figur. Man weiß nicht was sie denkt, wer sie ist."
Aber es ist kein oberflächliches Spiel mit subversiven Provokationen, denn Michelle ist eine Frau mit einer Geschichte: Da ist der Vater, der verurteilte Mörder, und ihre Angst vor dem Monster in sich selbst, als Wurzel für das Misstrauen in Polizei und Medien.
Sätze im Bedeutungswandel
Beziehungen sezierend, bettet Verhoeven den Thriller in eine Gesellschaftssatire ein. Michelle, mit ihrem herrlich verkrampften Verhältnis zur bourgeoisen Mutter mit dem jungen Liebhaber, dem liebenswürdig naiven Sohn und der erzkatholischen Nachbarin - die Figuren dort bloßstellend, wo die Fallhöhe am größten ist: beim Weihnachtsessen am Familientisch, vor den Kollegen im Büro.
Am Ende des Films, haben Sätze vom Anfang eine andere Bedeutung, dann wenn der Spielplan Verhoevens, mit seinen doppelten Böden und überraschenden Wendungen langsam klarer wird.
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Die Zeit - Isabelle Huppert: "Ach, Rache!"