Claudio Magris blickt direkt in die Kamera

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Im Gespräch

Claudio Magris - Germanist, Schriftsteller, Grenzgänger

Was Claudio Magris, den 1939 in Triest geborenen italienischen Schriftsteller auszeichnet, ist sein ungebrochener Glaube an die Macht der Kultur und der Vernunft. Seit seinen Studententagen beschäftigt sich der 2006 emeritierte Professor für moderne deutschsprachige Literatur an der Universität Triest mit dem Erbe des Habsburgerreiches in Literatur, Kultur und Mentalität der Länder, die einst in diesem großen Reich zusammengehörten.

In einem kleinen Café - in Triest

Im sich länglich erstreckenden Raum gibt es, vom Eingang aus betrachtet, an der rechten Seite eine Fensterwand und Sitzbänke. Links eine Theke aus dunklem Holz. In der Mitte des Raumes, in einem der vielen Bögen, hängt eine Uhr. Auf ihrem Ziffernblatt steht in dicken schwarzen Lettern der Name des Ortes: Antico Caffè San Marco.

Seit seiner Eröffnung 1914 war das Kaffeehaus in der norditalienischen Hafenstadt Triest ein Ort politischer und kultureller Ereignisse. Die Irredentisten – italienische Nationalisten aus der Zeit vor 1918, deren Ziel es war, die bis dahin zu Österreich gehörenden Gebiete Trentino und Triest an Italien anzugliedern – sollen hier unter anderem illegale Pässe für italienisch-patriotische Aktivist/innen ausgegeben haben. Schriftsteller wie Italo Svevo oder James Joyce waren Stammkunden in den Räumlichkeiten an der Via Cesare Battisti Nummer 18.

Heute kreuzen sich hier die Wege der Einheimischen und jene der Touristen. Sie trinken Espresso, sie lesen Zeitung oder eines jener Bücher, die man in der Libreria des Kaffeehauses kaufen kann. In all diesem Trubel gibt es – ganz hinten rechts in der Ecke – eine Insel der Ruhe und totalen Konzentration. Dort sitzt der Schriftsteller und Germanist Claudio Magris. Immer am selben Tisch. Niemandem käme es in den Sinn, das zu ändern. Unter Menschen zu schreiben relativiere seine Tätigkeit, meint der 1939 in Triest geborene Magris. Es bewahre ihn davor, sich zu wichtig zu nehmen.

Claudio Magris mit seinem neuen Buch

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Buch-Tipp

Claudio Magris, "Verfahren eingestellt", aus dem Italienischen von Ragni Maria Gschwend , Carl Hanser Verlag, März 2017

Literarischer Durchbruch

Große Teile seines 1986 entstandenen Buches Donau. Biographie eines Flusses – es war sein literarischer Durchbruch – sind auf diesem Marmortisch entstanden. Damals war Magris schon kein unbekannter Literat mehr, sondern ein renommierter Professor für moderne deutschsprachige Literatur an der Universität von Triest. 1962, mit nur 24 Jahren, hatte er seine Dissertation mit dem Titel Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur geschrieben. Bis heute gilt sie als Standardwerk der österreichischen Literaturwissenschaften, weil Magris zeigen konnte, dass die österreichische Literatur sehr wohl von der deutschen Literatur abzugrenzen ist.

Magris, der Grenzgänger

Seit damals widmet sich Claudio Magris dem Thema Mitteleuropa. Er versteht sich als europäischer Patriot, als einer, der kulturelle, sprachliche und literarische Grenzen erkundet. Liegt doch auch Triest an der Grenze, ist es umgeben von Grenzen: Österreich, Italien, Slowenien – Grenzland. Magris studiert Grenzen, seziert sie, lernt sie kennen und versucht, sie zu verstehen. Er will im Diesseits und im Jenseits der Grenze leben. Denn nur so könne man mit Grenzen richtig umgehen.

Claudio Magris ist ein Reisender

Wenn er spricht, sprudeln die Sätze nur so aus ihm heraus. Er stellt frei Assoziationen her, verknüpft ein Zitat eines Schriftstellers mit einer Anekdote über einen anderen, und erzählt dann wieder von einer Begebenheit, die sich irgendwo in Triest zugetragen hat. In seinen Büchern verwebt er unterschiedliche Handlungsstränge und führt die Lesenden durch sein gedankliches Labyrinth. Er zeigt ihnen, was man finden kann, wenn man sich nur weit genug vor traut.

Renata Schmidtkunz

Renata Schmidtkunz im Gespräch mit Claudio Magris "Im Gespräch", Donnerstag, 4. Mai 2017, 21:00, und Freitag, 5. Mai 2017, 16:05

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Das neueste Werk

In seinem neuen Roman – 2015 auf Italienisch und nun auf Deutsch erschienen – mit dem Titel Verfahren eingestellt geht es um Frieden. Die Geschichtsschreibung schreibe auf, was passiert sei. Und die Literatur beschreibe, wie es den Menschen dabei ergangen sei. So hat Magris einmal – an den großen italienischen Schriftsteller Alessandro Manzoni erinnernd – die Aufgaben der beiden Disziplinen beschrieben. Einer der Protagonisten des Romans ist ein manischer Sammler von Kriegsreliquien, der ein Museum einrichten will. Ein Kriegsmuseum. Zum Zwecke des Friedens allerdings.

Zwei Verfolgungsgeschichten

Dem Roman zugrunde liegt die Lebensgeschichte des Diego de Henriquez, der 1909 in Triest geboren wurde und 1974 bei einem Brand ums Leben kam. Eine junge Frau, Luisa, Jüdin mit afroamerikanischem Vater, versucht, aus den Überresten der Sammlerschaft das Museum zu verwirklichen. Luisa repräsentiert zwei Exile und zwei Verfolgungsgeschichten: jene der Juden und jene der afrikanischen Sklaven in Amerika. Auch sie kommen im Buch vor. Ebenso wie die Verfolgung und Ermordung von Triestiner Juden, Partisanen und Sozialisten in der Risiera di San Sabba, dem einzigen Konzentrationslager auf italienischem Boden. Ein Thema, das immer noch bewegt.