Laurie Anderson - AFP/TIZIANA FABI
United States live
Laurie Anderson zum 70. Geburtstag
Gruselgeschichten aus den Vereinigten Staaten von Paranoia & Ironie. Aus Anlass ihres 70. Geburtstages wagen wir einen Streifzug durch Laurie Andersons legendäre Oper "United States live" aus 1983, das unübertroffene Opus magnum der amerikanische Künstlerin aus ihrer Welt zwischen Konzeptkunst und Pop.
18. Juni 2017, 02:00
Spielräume
Laurie Anderson zum 70. Geburtstag | 04 06 2017 | 17:10 Uhr
Garden Eden NYC
Würde man die Bibel genau lesen - so verkünde eine amerikanische Sekte, erzählt uns Laurie Anderson - ihrerseits Künstlerin, Musikerin und vor allem Geschichtenerzählerin seit den 1980er Jahren -, also: Würde man die Bibel genau lesen, dann wäre klar, dass Noah mit seiner Arche mehrere tausend Meilen westlich vom Berg Arafat aufgebrochen sein muss, letztlich also in Upstate New York. Der Garten Eden wäre dann aber New York City.
Nun gäbe es aber gerade hier keinerlei Hinweise auf vorsintflutliche zivilisatorische Spuren. Man müsse daher- das ist die plausible Schlussfolgerung - davon ausgehen, dass die Große Flut erst noch bevorsteht. Willkommen im Land hintergründig lächelnder Dauerparanoia, willkommen in den United States of Laurie Anderson.
Großen Themen als Ein-Satz-Pointen
Mit dieser Geschichte beginnt Laurie Andersons die zwei Abende füllende, beziehungsweise zehn Schallplattenseiten lange multimediale "talking opera" mit dem Titel "United States". Allerlei Paranoides, Bedrohliches, aber auch Verführerisches, Ironisches ist da zu finden, knochentrocken in Musik gesetzt und hingebungsvoll erzählt von der Autorin selbst.
Es geht um Gesellschaftskritik im großen Stil zwischen Technologie und Kapitalismus, aber Laurie Anderson bündelt diese großen Themen am liebsten in Ein-Satz-Pointen. Beispielsweise: Ein kurzer Exkurs zur amerikanischen Form des lässig den Armhebens zwecks Say Hello und Say Good-Bye; man sieht als Videoprojektion diese berühmte Paar-Abbildung, die in den Weltraum geschickt wurde, und die Tatsache, dass der Mann mit erhobener Hand grüßend, die Frau aber passiv neben ihm stehend abgebildet wurde, kommentiert Laurie Anderson mit modulierter Stimme:
"Glauben Sie, dass die Außerirdischen glauben werden, sein Arm sei in dieser Stellung permanent fixiert?" - Fortbewegung und Geschwindigkeit, Geschlechterrollen und Machtspiele, Kommunikation und Technologie, alles mündet in einen hinterhältigen Satz.
Die "talking opera" währt nicht lange und schon befinden wir uns im ersten - damals wohl zur Überraschung aller - großen Hit von Laurie Anderson, "O Superman". Auch dieses Lied ist eine Paraphrase auf Technologie, Kommunikation und Entfremdung: Die damals so typischen Anrufbeantworterphrasen - "Hi, I’m not home right now" - prägen den Text. Und manch Rätsel löst sich erst beim zweiten Mal Hinhören auf: "O Superman, O Judge, o mom and dad."
"Basically I’m a story-teller"
Die beim ersten Hören nicht erahnbare weil kunstvoll versteckte Gesellschaftskritik: Eine Phrase aus einer Jules-Massenet-Oper verweist auf den farbigen und deswegen lange Zeit in seiner Karriere behinderten US-amerikanischen Tenor Charles Holland: Im Opernoriginal heißt es "O Souverain / o juge / o père", und bei Laurie Anderson wird dann eben daraus, "O Superman, O Judge, o mom and dad".
Laurie Anderson graduierte magna cum laude und trieb sich dann in den 1970er Jahren in den damals wilden New Yorker Kunstkreisen herum und trat mit ihren Performances vornehmlich in Galerien auf. Sie entwickelte eine Geige, die statt Saiten einen Tonkopf hatte und deren Bogen statt mit Haaren mit einem bespielten Tonband bespannt war, um damit eine Art performatives Sampling auf die Bühne zu bringen.
Und sie veröffentlichte ihre ersten Songs bezeichnenderweise für Juke Boxes in Kunstinstallationen. Ihre Kompagnons damals waren John Giorno, William S. Bourroughs, John Cage, Allen Ginsberg und andere. Erst im Anschluss wurde sie zum coolen Popstar der 80er Jahre. Aber immer meinte sie über sich selbst: "Basically I’m a story-teller."
Der geniale Erfinder Nikola Tesla
Kehren wir zurück in ihre "talking opera" und schon entführt sie uns wieder. Eines Tages habe sie einen Anruf vom Tesla-Institut in Belgrad bekommen, erzählt sie, sie möge doch Lectures halten. Nikola Tesla, dieser genialische Techniker und Erfinder, taucht ja in Laurie Andersons Technologie-Imperien immer wieder auf. Via Graz sei er aus dem Österreichisch-Ungarischen Imperium in die United States zu Thomas Edison gekommen, der ihn alsbald zu hassen begonnen habe.
Erstens sei Tesla immer in perfekt gestylten Anzügen aufgetaucht, was so gar nicht zur Hemdsärmeligkeit des damaligen Edison-Amerikas passte, und zweitens habe er in diesem Dandy-Outfit dann auch noch die genialsten Erfindungen gemacht. Edison verrannte sich in bösartige Verleumdungen mit öffentlichen, tödlichen Tierversuchen, um die Gefährlichkeit des von Tesla propagierten Wechselstrom, des AC-Current, zu demonstrieren. Eine böse und wahre Geschichte, gerade recht für Laurie Andersons Abrechnung mit Machtsystemen, Technologie und Amerika und sie nennt technologisch-abstrakte Tänzchen den "Dance of Electricity".
Schnittstelle zwischen Erzählen & Musik
Auf zehn Plattenseiten lässt sich viel erzählen und auch ein bisschen Musik unterbringen, und von all den Mitmusikern, die Laurie Anderson damals hatte, sei David van Tieghem erwähnt, wahrlich unkonventioneller Perkussionist und Partner von Leuten wie David Byrne, Brian Eno, Adrian Belew, Arthur Russel und vielen anderen. Sein paradox unterkühlt und zugleich intensives Spiel, auch diese grandiose Simplizität des Klatschens inmitten von hochtechnologischem Multimedia, prägt diese Oper an genau jener seltsamen Schnittstelle zwischen Erzählen und Musik, die dem europäischen Musiktheater abhandengekommen ist, aber in den USA mit Künstlern wie Robert Ashley oder eben Laurie Anderson weiterentwickelt wurde.
Let X equal X, schon wieder eine Formel und zugleich ironische Lebensweisheit. Und so seltsam es ist, dass man ein stundenlanges Opus damit bestreiten kann, eigentlich immer nur zwei Akkorde hin- und her zu schieben, findet sich in dieser "Arie" eine der raren Ausnahmen: ein deswegen fast schon melodramatisch wirkender simpler, eingefügter Halbtonschritt.
Musik, Performancekunst, Malerei, Literatur - Laurie Anderson hat über die Jahre Vieles gemacht, auch einen Kinofilm. 2015 wurde "Heart of a Dog" im Rahmen der Filmfestspiele von Venedig präsentiert.
Rezension von Benno Feichter, 28.5.2016
Language is a Virus
Das Spiel mit amerikanischen Mythen wie Fortschritt oder Fortbewegung ließ ja immer wieder auch Gegenentwürfe entstehen, von utopisch-poetischen wie jene von Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau bis hin zu technoid-apokalyptischen wie Philip K. Dick und William S. Burroughs. Einen destruktiven Virus, der vom Weltraum auf die Erde gekommen ist, beschwört Laurie Anderson auf Textfragmente von William S. Burroughs und dieser Virus hat es in sich, es ist die Kulturtechnik Sprache selbst, die sich von Mund zu Mund verbreitet.
"Language is a Virus": Der Song wurde 1986 dann auch als Single auf den Markt gebracht und ist eines der bekannteren Lieder von Laurie Anderson. Schon 1981, also gerade zu Beginn dieser Zeit, erschien der Song "Big Science" als Single und dieses enigmatische und zugleich prototypische Lied blieb lange in ihrem Repertoire und war selbstverständlich in einer mystisch dunklen Version auch Bestandteil des Riesenwerks "United States".
Grusel am Kaminfeuer der Technologie
Laurie Anderson erzählt Gruselgeschichten am Kaminfeuer der Technologie, die von einer Gesellschaft erzählen, in der alles unaufhörlich aber seltsam besinnungslos unterwegs zu sein scheint. It’s cold outside, singt sie, und dann fragt jemand nach dem Weg. Gehen Sie rechts, wo in ein paar Jahren die Shopping Mall gebaut wird, gerade aus, wo dann die Autobahn sein wird, links beim zukünftigen Sportcenter und wieder geradeaus, wo Jahre später dann die Drive-In-Bank stehen wird. Golden Cities, Golden Towns. Allzu viel Optimismus ist angesichts dieser Gesellschaft nicht angesagt: "Every man for himself. Big Science. Hallelujah ..."
Gruselgeschichten am Kaminfeuer der Technologie, erzählt und in Musik gesetzt von Laurie Anderson: Als Reisebegleiter durch die Wiederbegegnung mit den Vereinigten Staaten von Paranoia & Ironie fungiert Christian Scheib.
Service
Die Talking Opera "United States" ist sowohl im originalen Vinyl als auch auf CD in Boxen erhältlich:
Warner Bros. Records - 1-25192, 5 × Vinyl, LP, Box Set
Warner Bros. Records - 9 25192-2, 4 × CD, Reissue, Box Set
Laurie Anderson
Gestaltung
- Christian Scheib