Holzstapel und Sonnenschein, Feld

ORF/JOSEPH SCHIMMER

"Ex libris"-Sommerserie

Kunst als Prozess begreifen

Klassiker des 19. und 20. Jahrhunderts in Neuausgaben sind Thema der "Ex libris"-Sommerserie von 16. Juli bis 21. August jeweils sonntags um 16:00 Uhr. In der ersten Folge werden Franz Grillparzers "Selbstbiographie" (Jung & Jung Verlag) und Viktor Schklowskijs "Sentimentale Reise" (Die Andere Bibliothek, Übersetzung: Olga Radetzkaja) vorgestellt.

Es brodelt und rumort

Von einer Schulklasse - Gymnasium, Oberstufe - wird berichtet, dass sich im Zuge der Lektüre von Hermann Hesses Erzählung "Unterm Rad" Widerstand gegen den Deutschlehrer formiert habe. Dabei hatte dieser das 1906 erschienene Buch bewusst ausgewählt, weil er dachte, mit dem Protagonisten Joseph Giebenrath könnten sich die jungen Leute auch heute noch identifizieren. Die Nöte eines Heranwachsenden zwischen ignorantem Elternhaus, veralteten Erziehungsidealen, einem unkreativen Schulsystem und dem Gefühl, mit seinem Drang nach Selbstbestimmung ständig an Grenzen zu stoßen - das müsste ihnen doch bekannt vorkommen.

Erweiterung der Wirklichkeit

Vielleicht hat sich der Lehrer an seine eigene erste Begegnung mit Hesses Buch erinnert, an das Gefühl, dass in der Literatur etwas zum Ausdruck kommt, was im Leser brodelt und rumort. Dass ein Text mehr ist als das kurzfristige Austreten aus der Wirklichkeit, nämlich die Erweiterung der eigenen Wirklichkeit, indem ein Werk der Kunst direkt aus dem Alltag schöpft; dass der Schriftsteller kein Olympier ist, sondern jemand, der seine Erfahrungen, seine Gefühle, die jedermanns Erfahrungen und Gefühle sein könnten, zu übersetzen versteht.

https://www.instagram.com/p/BWc3reaBJyE/" style=" color:#000; font-family:Arial,sans-serif; font-size:14px; font-style:normal; font-weight:normal; line-height:17px; text-decoration:none; word-wrap:break-word;" target="_blank">Karl Menrad liest Auszüge aus Viktor Schklowskijs "Sentimentale Reise". #exlibris #sommerserie #buecher #literatur #karlmenrad #juliareuther #oe1 #literaturklassiker #lesen #oe1sommer

Ein Beitrag geteilt von Radio Ö1 (@oe1) am


"So umständlich, so altmodisch"

In der Tat verstanden die Schüler viel von dem, was Giebenrath umtrieb. Das, sagten sie, sei ja nicht das Problem. Vielmehr sei ihnen die Sprache ein Dorn im Auge: so umständlich, so altmodisch. So spreche niemand mehr. Der Lehrer reichte die Kritik an den Suhrkamp Verlag weiter. Nicht zum ersten Mal war man dort (wie auch in anderen Verlagen) mit der Aufforderung konfrontiert, literarische Texte, wenn sie schon in die Jahre gekommen sind, umschreiben zu lassen und sie dem gegenwärtigen Sprachgebrauch anzupassen.

Absurde Anverwandlung

Nun ist das durchaus Praxis bei Kinder- und Jugendbüchern, weil in ihnen vor allem Werte verhandelt werden, deren Gewichtung sich über Jahrzehnte und Generationen ändert. Und manches, was früher einmal Alltagssprache war, gilt mittlerweile als rassistisch oder sexistisch. Doch begreift man Literatur als Sprachkunstwerk, jedenfalls jene Literatur, die kanonisiert ist und sich zudem im Kanon über die Zeiten hinweg behaupten kann und damit klassisch wird, dann mutet die Forderung nach modischer Anverwandlung absurd an.

Buchcover, Grillparzer, Selbstbiographie

JUNG UND JUNG VERLAG

"Kunst hat sich nicht anzupassen"

Denn Literatur ist immer auf der Höhe des sprachlich Möglichen und kein nützlicher Begleiter durch eine Wirklichkeit, in der die Sprache auf Jargons reduziert ist. Die Kunst, meinte Arno Schmidt 1963, hat sich nicht anzupassen - ganz im Gegenteil: "Der Einzelne, der große Kunst verstehend genießen will, hat sich gefälligst zu ihr hin zu bemühen!"

Diese Haltung wird mitunter nur allzu gern als elitär denunziert, und die sogenannten Klassiker, was nichts mit der Bezeichnung einer Epoche Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts zu tun hat, werden als ungenießbarer Bildungsballast im kulturgeschichtlichen Abfluss versenkt.

Wiederentdecken und -übersetzen

Die Institution Schule hat dieser Entwicklung nichts entgegenzusetzen. Die Entwertung von Sprach- und Literaturkenntnissen im Rahmen der Zentralmatura verdeutlicht, dass dies auch nicht gewollt ist. Umso erfreulicher ist der Wille bzw. die Neugier großer wie kleiner Verlage beim Wiederentdecken, Wiederauflegen und Neuübersetzen von Klassikern der Weltliteratur. Teile der Programme stehen im Zeichen der Erkenntnis, dass nichts ist, was nicht von irgendwo herkommt. Dass Kunst nicht als Ereignis, sondern als Prozess zu begreifen ist. Und das ist auch gut so.

Gestaltung

  • Peter Zimmermann