Das Wandbild in der Wiener U-Bahn-Station Schottenring Ausgang Herminengasse

APA/KÖR GMBH, 2017/IRIS RANZINGER

Im Gedenken an die Verfolgung jüdischer Bewohner einer Gasse

Seit kurzem erinnert ein Kunstwerk in der Wiener U-Bahn-Station Schottenring an 800 jüdische Menschen, die Opfer der Shoah wurden.

In den Jahren 1938-1945 wurden aus der nahe gelegenen Herminengasse in Wien-Leopoldstadt (2. Bezirk) Jüdinnen und Juden in Konzentrationslager deportiert – nachdem sie sich mit ihren Familien eine Existenz aufgebaut oder die zahlreichen jüdischen Vereine besucht hatten. In der Herminengasse waren aber ab 1938 auch viele Jüdinnen und Juden in Sammelwohnungen untergebracht. So wurde diese Gasse zum Schauplatz des Schreckens der Shoah.

Nun ruft die deutsche Künstlerin Michael Melián in der Wiener U-Bahnstation direkt unter der Herminengasse das Schicksal der jüdischen Opfer in Erinnerung. Sie hat ihre Lebenslinien quer über die Wände nachgezeichnet, von den Häusern zu den Deportationsorten.

Zusätzlich zum Kunstwerk bildet ein Katalog die Geschichten der Bewohnerinnen und Bewohner ab und zeigt das lebendige jüdische Vereinsleben in der Gasse. Die Historikerin mit den Schwerpunkten Restitution und österreichisch-jüdische Geschichte, Tina Walzer, verzeichnet mehr als 1.400 verfolgte Personen an diesem Ort. Viele Spuren verschwanden. Doch von 800 Opfern sind die letzten Wege bekannt. Jetzt sind ihre Lebenslinien sichtbar gemacht worden.

Auszug aus den Interviews mit der Historikern Tina Walzer und der Künstlerin Michaela Melián:

Praxis: Tina Walzer, Sie haben gemeinsam mit einem Team aus Studierenden mehr als 1.400 Personen recherchiert, die zwischen 1938 und 1945 in der Wiener Herminengasse im 2. Bezirk von den Nazis verfolgt wurden. Das sind zum einen die alteingesessenen Bewohner der Gasse. Zum anderen auch jene, die während der NS-Zeit vertrieben und in Wohnungen der Herminengasse zwangseinquartiert wurden. Wo begann Ihre Recherche?

Tina Walzer: Um die Frage zu lösen, wer in der Herminengasse gewohnt hat, führt der beste Zugang über Meldezettel. Nun sind Meldezettel in Wien alphabetisch nach den Namen der Bewohner geordnet. Ich kann in diesem Archiv also nur suchen, wenn ich schon vorher weiß, wer in der Gasse gewohnt hat. Der erste Zugang führte daher über das Adressbuch. Zum Glück gibt es aus dieser Zeit ein historisches Adress- und Telefonverzeichnis. Darin sind zumindest all jene verzeichnet, die einen Telefonanschluss hatten. Im Meldearchiv fanden wir viel mehr Namen als ursprünglich im Adressbuch. Ganz wesentliche Informationen kamen aus dem Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, die über drei ganz entscheidende Aktenbestände verfügt. Etwa über den Bestand der Auswanderungsfragebögen. Menschen in höchster Not wendeten sich an die Kultusgemeinde, mit der Bitte sie zu unterstützen, das Land verlassen zu können. Die anderen beiden Aktenbestände in der IKG waren Hauslisten. Irgendwann haben Beamte der Kultusgemeinde begonnen, hausweise aufzulisten, welche Mitglieder der Kultusgemeinde während der Nazizeit noch dort lebten. Dann gibt es die sogenannten Deportationslisten, wo verzeichnet wurde, wer auf welchem Transport in die KZs gebracht worden ist.

Praxis: Welchen Stellenwert hat Erinnerung im jüdischen Glauben?

Tina Walzer : Erinnerung ist ein religiöses Gebot. Sachor, hebräisch: Erinnerung. Es geht darum, sich an die zu erinnern, die vor uns hier waren, die uns unser Hiersein eigentlich erst ermöglicht haben. Erinnern ist eine wesentliche und auch sehr erfüllende Aufgabe. Wer bin ich? Was ist meine Identität? Wie setzt sie sich zusammen? Das Erinnern im Zusammenhang mit der Shoah hat eine ganz spezielle Komponente. Nicht jede Person, die umgekommen ist, hat ein eigenes Grabmal bekommen. Umso wichtiger ist es, andere Formen der Erinnerung einzubringen, damit das nicht verloren geht.

Praxis: Im Zuge Ihrer Recherche sind Sie auf das rege jüdische Vereinsleben der Herminengasse gestoßen. Was war diese Gasse für ein Ort?

Tina Walzer: Im Prinzip liegt die Herminengasse in einem Bereich des zweiten Bezirks, wo sehr viele orthodoxe Einrichtungen untergebracht waren. In der Herminengasse haben wir zwei Betvereine. Da ist der Verein Tomche Thora, "Unterstützung der Thora-Lehre", mit ganz berühmten Rabbinern, die dort eine Rabbiner Universität betrieben haben. Das andere Bethaus in der Herminengasse war das Vereinshaus Sadagorer Klaus. Die chassidische Dynastie Sadigura ist nach dem Herkunftsort, der bukowinischen Stadt Sadhora (dt. Sadagora) benannt. Die Dynastie begann 1850 mit Rabbiner Abraham Jakob Friedman (1820 – 1882) . Nach dem 1. Weltkrieg flohen viele jüdische Flüchtlinge aus den östlichen Provinzen der Habsburger Monarchie vor Pogromen. Bei Ausbruch des 2. Weltkrieges verlegte diese Dynastie ihren Sitz nach Palästina und hat heute in Israel und Europa mehrere hundert Mitglieder.

Praxis: Michaela Melián, Sie haben das Kunstwerk in der U-Bahnstation Schottenring gestaltet. Ein Ort, den die Leute meist schnell durchqueren. Wie gelingt hier die Erinnerung?

Michaela Melián: Als Künstler hat man erstmal eine weil gewisse Scheu, weil man das Gefühl hat, jetzt wird eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe auf die Schultern des Künstlers gelegt. Nun habe ich mir diesen Ort nicht ausgesucht, aber der Ort stimmt. Er ist eindrücklich – wie eine Art Rampe. Erstmal muss man sich mit dem Ort auseinandersetzen. Wie visualisiert man das? Wie stellt man eine Situation her, dass die Leute eine Idee bekommen, worum es hier geht und dass es nicht als gesellschaftliche Entlastung sehen.

Praxis: Die Linien, die Sie gezeichnet haben, führen von dunklen Stelen zu den Wörtern "Dachau", "Theresienstadt". Sie zeigen, wo die Wege der 800 Opfer der Herminengasse endeten. Sie wirken aber auch als Signalwörter, an denen die Augen der Passanten haften bleiben.

Michaela Melián: Die Orte sind im kollektiven Unterbewusstsein. Das ist schlimm. Es ist aber wichtig, dass es jeder weiß. Das Auge bleibt also daran hängen. Gleichzeitig sieht man aber eine abstrakte Zeichnung. Die Arbeit soll ja als Zeichnung funktionieren. Ich hatte immer die Bilder einer Sprengzeichnung oder eines Schulatlas im Kopf. Migrationsströme werden oft mithilfe von Pfeilen dargestellt. Das wollte ich visualisieren. Ich wollte für jeden Menschen, von dem man es weiß, eine Linie mit der Hand ziehen.

Praxis: Die Linien, die Sie gezeichnet haben, führen von dunklen Stelen zu den Wörtern "Dachau", "Theresienstadt". Sie zeigen, wo die Wege der 800 Opfer der Herminengasse endeten. Sie wirken aber auch als Signalwörter, an denen die Augen der Passanten haften bleiben.

Michaela Melián: Die Orte sind im kollektiven Unterbewusstsein. Das ist schlimm. Es ist aber wichtig, dass es jeder weiß. Das Auge bleibt also daran hängen. Gleichzeitig sieht man aber eine abstrakte Zeichnung. Die Arbeit soll ja als Zeichnung funktionieren. Ich hatte immer die Bilder einer Sprengzeichnung oder eines Schulatlas im Kopf. Migrationsströme werden oft mithilfe von Pfeilen dargestellt. Das wollte ich visualisieren. Ich wollte für jeden Menschen, von dem man es weiß, eine Linie mit der Hand ziehen.

Praxis: In der Erinnerungskultur der Shoah und vor allem in der Kunst stellt sich die Frage nach der Darstellung. Was waren Ihre Gedanken dazu?

Michaela Melián: Ich finde für die Erinnerung Bücher ganz wichtig. Aber auch Filme mit Zeitzeugen, die heute oft gar nicht mehr leben. Für die Kunst ist es natürlich schwer. Darf man das? Kann man das überhaupt? Es gibt ja den Satz: "Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch". Ich finde es wahnsinnig schwer. Irgendwie versuche ich, dass es einen sowohl berührt, aber auch über den Kopf geht. Man kann die Leute in der U-Bahn nicht moralisch packen. Das ist nicht der Ort. Hier ist auch nicht der Ort, wo man mit Namen arbeitet. Ich hätte ja mehr als 1300 Namen gehabt aber die hier hinzuschreiben hätte ich nicht als respektvoll empfunden. Ich finde es sinnvoller, wenn man sich damit in einem Buch beschäftigt.