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Literatur
Ljudmila Ulitzkaja - Russlands Schriftstellerin Nummer Eins
Sie gilt heute als Russlands unumstrittene Schriftstellerin Nummer Eins - Ljudmila Ulitzkaja. Sie schrieb über das Leben der sowjetischen Dissidenten, über das Verhältnis von Judentum und Christentum, über die Lügen der Männer und jene der Frauen. Ihre Romane, Erzählungen und Theaterstücke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, 2014 erhielt Ulitzkaja den Österreichischen Staatspreis für europäische Literatur. In ihrem jüngsten Roman "Jakobsleiter" erzählt sie die Geschichte ihrer Familie.
30. Dezember 2017, 02:00
Morgenjournal | 29 11 2017
Erich Klein
Gesellschafts- und Geschichtspanorama
Ljudmila Ulitzkajas "Jakobsleiter" - das ist ein Gesellschafts- und Geschichtspanorama Russlands im 20. Jahrhundert, tragisch und komisch zugleich. Auf sechshundert Seiten sitzt jedes Detail. "Ich begann den Roman zu schreiben, nachdem ich den Briefwechsel meines Großvaters mit meiner Großmutter gelesen hatte", erzählt Ljudmila Ulitzkaja. "Ihr erster Brief stammt aus dem Jahr 1911. Hundert Jahre später dachte ich mir: Du musst das jetzt endlich lesen. Ich hatte ja immer Angst davor, die Beziehungen in meiner Familie waren ziemlich kompliziert. Und ich wusste, ein ganzer Kasten mit Skeletten würde auf mich niederprasseln. Das ist dann wirklich auch passiert."
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Ljudmila Ulitzkaja
Die Archive des KGB
Jakow und Marussja Ossetzkij, wie die Großeltern im Buch heißen, russische Juden aus Kiew, übersiedeln nach der Revolution in die Hauptstadt Moskau. Sie ist begeistere Tänzerin und "parteilose, aber höchste eifrige" Bolschewikin. Er, ein Wirtschaftswissenschaftler, erkennt bald die Defizite des neuen Systems und landet als "Volksfeind" im Gulag. Ljudmila Ulitzakaja begab sich für die Recherche in die Archive des früheren KGB.
"Volksfeind" Jakow Ossetzkij
"Am eindrucksvollsten war der Großvater", sagt sie. Sie habe ihn nur ein einziges Mal gesehen, als er aus dem Lager freigekommen und in die Verbannung weiter gefahren war. Das war 1954/55. "Ich war damals zehn oder elf", erinnert sich Ulitzkaja. "Aus den Akten verstand ich, welch großartiger und mutiger Mann er gewesen sein muss! Nach der Scheidung der Ehe wurde in der Familie über ihn geschwiegen." - Die erste bittere Entdeckung bei der Arbeit am Roman: Die geliebte Oma hatte sich getrennt, als ihr Mann im Gefängnis saß. Und nicht weniger drastisch: auch deren Sohn, Ulitzkajas Vater, hatte sich - was im Stalinismus nicht selten vorkam - vom so genannten "Volksfeind" losgesagt.
Wem gehört die Krim?
"Jakobsleiter" - das ist aber nicht nur eine Familiengeschichte, wie nebenbei entwirft Ljudmila Ulitzkaja eindringliche Stadt- und Landschaftsporträts: vom heute verschwundenen Moskau, von Tiflis und nicht zuletzt von der Krim. Eine Gretchenfrage für russische Intellektuelle seit der Besetzung durch Putins Soldaten: Wem gehört also die Krim?
"Die Krim gehört mir!", sagt Ulitzkaja. "Das ist meine ganze Kindheit, die Schwestern meiner Großmutter lebten dort. Ich kenne die Krim in- und auswendig. Die Annexion der Krim, das ist jenseits von Gut und Böse. Die Frage ist nicht, wem die Krim gehört, sondern, dass dieses Paradies unter miserablen Politkern allmählich untergeht. Pseudopolitiker haben dort das Sagen und mir ist es leid um dieses wunderbare Land."
Service
Ljudmila Ulitzkaja, "Jakobsleiter", Roman, aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt, Hanser. Originaltitel: "Lestnica Jakova"
Hanser - Ljudmila Ulitzkaja