Virginie Despentes

AP/FRANCOIS MORI

Roman

"Das Leben des Vernon Subutex 2" von Virginie Despentes

Für kein anderes Werk hat die 48-jährige Autorin mehr Preise, mehr Kritikerlob und mehr Jobs im Literaturbetrieb bekommen als für die Subutex-Trilogie. Seit deren Erscheinen in Frankreich 2015 und 2016 ist die Despentes überall: in Talkshows, in der Jury für den angesehenen Prix Femina und im Auswahlgremium für den Goncourt-Preis. Ihre Subutex-Serie wird außerdem gerade fürs Fernsehen adaptiert. Band zwei ist nun auch in deutscher Übersetzung erhältlich.

Der Terminus "Pennerglück" erhält bei Virginie Despentes eine ganz neue Bedeutung. Mag es vor dem Erscheinen des Romans nur die reichlich ironische Bezeichnung für ein billiges Getränk gewesen sein, so muss die Bedeutung nun entscheidend ergänzt werden. Der Penner ist ein Glück für die Gesellschaft. Er ist die sonst überall verdrängte Erinnerung an menschliche Schwäche und Hinfälligkeit, und er ist vielleicht der letzte, der zeigt, worum es eigentlich im Leben geht. Nämlich darum, dass die Menschen sich umeinander kümmern. Das klingt ein bisschen nach Heilslehre und ein bisschen nach Wahrheit - und so ist es auch mit diesem Buch.

Vom Plattenhändler zum Penner

Vernon Subutex, den wir in Band eins im Jahr 2006 als Besitzer des angesagten Pariser Plattenladens "Revolver" kennengelernt haben, hat mit der digitalen Wende und dem Aufkommen der Streaming-Dienste in kürzester Zeit alles verloren: den Laden, die Sozialhilfe, seine Wohnung. Ein paar Wochen konnte er noch bei Freunden schlafen. Dann ging man sich auf die Nerven.

In Band zwei ist aus dem einstigen Helden der Pariser Subkultur ein Penner geworden, der sich dort versteckt, wo ihn niemand kennt, auf einer Parkbank in einem gutbürgerlichen Viertel in der Nähe der Buttes-Chaumont mit Blick auf Sacré Coeur. Eines Morgens kommen die Straßenkehrer und spritzen die Bürgersteige ab.

Einer von ihnen hat auf Vernons Gesicht gezielt. Er ist aufgesprungen, und der Mann hat die Pappen weggespült, die ihn vor der Kälte schützten. Ein junger Schwarzer mit feinem Gesicht, der ihn hasserfüllt angestarrt hat. "Zisch ab hier! Die Leute haben keine Lust, morgens deine dreckige Faulenzerfresse zu sehen. Mach, dass du wegkommst." Und Vernon erkannte am Ton, dass er gut daran tat, sofort zu gehorchen. Die Tritte würden nicht auf sich warten lassen.

Tritte kennt Vernon schon von den "wahren Franzosen", einer rechtsradikalen Schläger-Truppe, die es auf Juden, Obdachlose, Ausländer und Aussteiger abgesehen hat. Aber ihm ist mittlerweile alles gleichgültig.

Buchcover

KIEPENHEUER & WITSCH

Gastgeber im Park

Während Vernon von einem Delir ins nächste driftet, gründen seine Freunde die Facebook-Gruppe Subutex. Einige machen mit, weil er sie bestohlen hat, andere aus schlechtem Gewissen und Sorge um einen früheren Freund. Sie suchen und finden ihn. Sind erst enttäuscht, weil er nicht mehr bei ihnen wohnen will. Aber irgendwie auch erleichtert, denn Subutex riecht streng. Also gehen sie zu ihm in den Park, und das bald täglich.

Die Wiese ist Vernons Salon, er empfängt dort mit der Liebenswürdigkeit eines Gastgebers, der Zeit hat, und sich über die Aufmerksamkeit freut. Sein Leben ist angenehm: Es gibt Gebäck, Rosé, nette Menschen, die Frauen kümmern sich um ihn, sie hören gute Musik aus rohrförmigen Bluetooth-Boxen, es gibt Stammgäste und Tagesbesucher. Ein unkompliziertes gesellschaftliches Leben.

Der Park, die Musik, die Liebe: "Vernon Subutex, Band 2" erzählt von einer Art Woodstock-Revival auf den Buttes Chaumont in Paris. Aber ganz peace-ig gehts nun doch nicht ab. Da sind die rechtsradikalen Schläger. Und da ist der Frauenverderber, Vergewaltiger und Machtmensch, der Filmproduzent Laurent Dopalet. Ein Widerling Marke Weinstein, wie der aktuellen MeToo-Kampagne entsprungen. Und wer sich noch an Despentes furiosen Erstling von 1994 erinnert, den Roman und Film "Baise moi", der erkennt im militanten Rachefeldzug der Frauen gegen Dopalet die Ideen von früher. Céleste, Ex-Kunststudentin, jetzt Besitzerin eines Tattoo-Studios, die Teil der Attacke gegen Dopalet ist, analysiert ihn beinahe mitfühlend:

Seine Maßlosigkeit ist lächerlich, sie sagt viel über das Profil eines Mannes, der nicht mehr weiß, wie er sich selbst beweisen soll, dass er existiert, und den nichts mehr beruhigen kann.

Insgesamt fällt Band zwei etwas ab. Das ist Kritik auf hohem Niveau. Der erste Band von "Das Leben des Vernon Subutex" lieferte ein perfekt gelungenes, scharf umrissenes Stimmungsbild der aktuellen Stadtgesellschaft in der Krise. Die Sprache: wunderbar roh, rau, ruppig. Auf dieses Buch hatte man gewartet, ohne es zu wissen. In Band zwei hat sich Despentes Ton verändert. Er ist nun eher versöhnlich, vielleicht sogar ein wenig unbeteiligt. Vernon Subutex ist trotzdem gute Literatur, zudem ein Buch mit Botschaft: Dass dieser Träumer, dieser Narr und Nichtsnutz Subutex durchkommt, ist ein Versprechen darauf, dass die Welt auch gut ist; denn es bedeutet: Nicht nur der Starke überlebt, sondern auch der Schwache.

Service

Virginie Despentes, "Das Leben des Vernon Subutex. Band 2", aus dem Französischen von Claudia Steinitz, Kiepenheuer und Witsch Verlag

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