ANDREAS KUBA
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Selbstjustiz nach dem Krieg: Chaim Miller erzählt.
In seinem umstrittenen Weltkriegs-Thriller "Inglourious Basterds" zeigt Quentin Tarantino, wie ein jüdisches Geheimkommando im besetzten Frankreich des Jahres 1944 Jagd auf Nazis und Nazi-Kollaborateure macht. Tarantinos bizarre Story ist fiktiv. Die Geschichte des Wiener Juden Alfred Müller dagegen ist authentisch: die Geschichte eines realen "Inglourious Basterd".
18. April 2018, 10:22
Als Sohn einer sozialdemokratischen Familie im "Roten Wien" der 1920er und 30er Jahre aufgewachsen, flüchtet Alfred Müller im März 1939 nach Palästina. Seine Eltern werden von den Nazis ermordet. Doch Chaim Miller, wie er sich seit seiner Ankunft im Exil nennt, kehrt zurück. Als "Special Agent" der britischen Armee wird er Aktivist eines jüdischen Geheimkommandos. Im Herbst 1945, Millers Truppe ist im Friaul stationiert, fährt der junge Mann ein Dutzend Mal zusammen mit seinen jüdischen Kameraden nach Österreich hinüber, um hochrangigen SS- und Gestapomännern "den Prozess zu machen". Das Procedere ist stets das gleiche: Millers Kommando fährt in britischen Uniformen vor den Häusern der Nationalsozialisten vor, in Villach, Lienz oder Klagenfurt, dann lädt man die Männer zum "Verhör". Sobald einer der "Verhafteten" auf den Lastwagen geklettert ist, wird er gefesselt und unter einer Decke versteckt über die Grenze nach Italien zurück gebracht.
In einem Wald bei Malborghetto halten die Angehörigen von Millers Kommando dann "Gericht". "Wir hatten keine richtigen Zeugen", erinnert sich Chaim Miller: "Wir wussten nur, was man uns über die Männer erzählt hatte. In den meisten Fällen haben die Täter gestanden, nur einmal mussten wir einen freilassen."
ANDREAS KUBA
Nach dem "Prozess" werden die "Verurteilten" in der Regel vor die Hütte geführt und angewiesen, ihr eigenes Grab zu schaufeln. Einen der Täter hat Chaim Miller persönlich "liquidiert". "Als das Grab tief genug war", erinnert sich der heute 96-Jährige, "habe ich gesagt: ,Stell dich da rein!’ Dann habe ich die Pistole gezogen, der Schuss ist gefallen, und der Mann ist liegen geblieben. Dann haben wir ihn zugedeckt und sind zurück gefahren."
Heute lebt Chaim Miller in einem Kibbuz in Israel. Auch mit Mitte neunzig arbeitet der alte Herr noch als Schlosser in der kibbuzeigenen Metallfabrik. Chaim Miller bereut nichts.
ANDREAS KUBA
In ihrem Feature rekonstruieren Andreas Kuba und Günter Kaindlstorfer die Biographie des 96-Jährigen – die Geschichte eines realen "Inglourious Basterd": eine Geschichte von Verlust und Traumatisierung, von Widerstand, blutiger Rache und Neubeginn.
2013 wurde die Sendung mit dem „featurepreis 13“ der Stiftung Radio Basel ausgezeichnet. "Die O-Ton-Erzählung eines spannenden Zeitgenossen im Zentrum bildet das Siegerfeature ein weitgehend unbekanntes Stück Weltgeschichte ab. Der Hörer macht eine abenteuerliche, doch stets nachvollziehbare Reise durch Zeit und Raum. Das Feature wirft grundsätzliche Fragen über Opfer und Täter, Moral und Gerechtigkeit auf und bedient dabei keine gängigen Vorstellungen und Klischees." So begründete die Jury ihre Wahl.