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Gedanken für den Tag
Karl Marx: Der erste Volksprediger der Ökonomie
Den Toten soll man bekanntlich nichts Schlechtes nachsagen. "Das gilt für uns gewöhnlich Sterbliche. Aber wehe, man schriebe ein politisches Buch, das mehr als 500 Seiten hat, deshalb nie gelesen wird, aber so bekannt ist, dass jeder halbberühmte Mensch sich einbildet, eine Meinung dazu haben zu müssen. Dann wäre man wehrlos ausgeliefert", wendet Oliver Tanzer, Buchautor und Leiter des Wirtschaftsressorts der Wochenzeitung "Die Furche", ein. Im Fall von Karl Marx sei der Fluch der falsch Nachsagenden besonders auffällig.
29. August 2018, 11:21
Gedanken für den Tag
Zum 200. Geburtstag von Karl Marx 30 04 - 05 05 2018 jeweils 6:56 Uhr
"Denn wenn man alle Expertenurteile über ihn zusammenfasst, dann war Marx ziemlich widersprüchlich: ein Revolutionär und ein Bourgeois, ein treu sorgender Vater und ein rücksichtsloser Egoist, ein impulsiver Choleriker und ein kühler Stratege, ein Jude und ein Antisemit, ein Kapital-Experte und ein Pleitier.
Eine Universitätsstudie machte sich sogar die Mühe, im Gesamtwerk des erhabenen Karl Marx das Wort Scheiße zu suchen und zu zählen. Ergebnis: 54. So rachsüchtig kann nur das Nachleben sein", so Wirtschaftsjournalist Tanzer.
Eine Tradition, die Tanzer nicht fortsetzen möchte, allerdings festhält: "Er war der letzte Philosoph, der versuchte, ein umfassendes Lehrgebäude zu errichten und die Philosophie in die politische Welt zu holen." Erstaunlich daran sei, dass just Marx, der sich unentwegt auf wissenschaftlichen Realismus beruft, sein System in einer phantastischen Illusion gipfeln lässt: Den "neuen", moralisch perfekten Menschen, der sich selbst von Not und Krieg erlöst.
Der Homo oeconomicus - eine marktwirtschaftliche Kreatur
Marx werde heute deshalb gerne kritisiert, stellt Tanzer fest. "Aber müssen wir uns nicht fragen, ob wir nicht selbst in einem System leben, das sich seinen eigenen "neuen" Menschen erschaffen hat?
Den Homo oeconomicus, eine nutzensfixierte, marktwirtschaftliche Kreatur, die ihre Aktionen wie von Geisterhand um ein Marktgleichgewicht kreisen lässt. Und haben nicht beide Systeme den Menschen aus ihren Modellen herausgerechnet – in dem sie den menschlichen Hang zu Übertreibungen und die Sucht nach Reichtum und Geltung nicht sehen?
Genau diese unbeachteten Impulse sind es aber, die unsere Krisen auslösen. Und so führen die hohen Idealvorstellungen von Kapitalismus und Kommunismus letztlich zu ihrem Gegenteil: zur Un-Menschlichkeit."
Karl Marx ist kein herkömmlicher Ökonom
Marxismus sei nicht nur eine politische und wirtschaftliche Frage. Er sei eine Stilfrage. "Gewöhnlich wird die Ökonomie als ein Feld für bebrillte Langeweiler gesehen. Karl Marx ist in diesem Sinn kein herkömmlicher Ökonom." Denn seine Schriften seien von einer eigentümlichen Sprachgewalt durchdrungen, die durchaus an die biblischen Propheten erinnert.
"Der Satz des Propheten Jesaja: 'Ich werde zeugen gegen die, die den Lohn des Tagelöhners drücken‘, oder der Satz des Amos: ‚Um Silber habt ihr den Rechtschaffenen verkauft, den Armen um ein Paar Sandalen, niedertretend das Haupt der Kleinbauern‘, könnte so auch von Marx nachformuliert im Kapital stehen", findet Oliver Tanzer.
Hoffentlich schon fort
Seine "Gedanken für den Tag" gipfeln schließlich in der Frage: "Wer von uns kann sich uns in einer Welt der absoluten Gleichheit vorstellen? Karl Marx scheint selbst seine Zweifel gehabt zu haben. Von einer Gastgeberin während einer mondänen Soiree gefragt, wie er sich denn selbst sehe in seiner künftigen Kommunistenwelt, sagte er: "Die Zeiten werden kommen. Aber wir sind dann hoffentlich schon fort."