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Karl Marx und die Revolution, die nie kam
Vor 200 Jahren wurde Karl Marx geboren. Er wollte die Welt menschlicher machen und die Wirtschaft zur Dienerin des moralischen Fortschritts. Er ist an beidem gescheitert - und wurde trotzdem einer der einflussreichsten Denker des Abendlandes. Am 5. Mai wäre Karl Marx 200 Jahre alt geworden.
29. August 2018, 11:21
Karl Marx in Ö1
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Im Frühjahr 1851, im Vorfeld der ersten Weltausstellung in London, verschaffte sich ein preussischer Spion Zutritt zum Haus Dean Street 28 im Elendsviertel Soho. Im ersten Stock fand er eine kleine Zweizimmerwohnung vor, übel riechend und überfüllt mit Fetzen, Schmutz und abgewohnten Möbeln. Das war die Behausung eines der angeblich gefährlichsten Aufrührer der damaligen Zeit.
Statt Waffen zu entdecken, fand der Eindringling bloß Unordnung vor, insbesondere auf einem Tisch in der Mitte des Wohnraums, der sich unter dem Gewicht mehrerer Schichten von Manuskripten, Schreibgeräten, Kinderspielzeug, Zigarrenasche, Tassen, Gläser und Flaschen bog, "mit einem Wort: alles Graffelwerk drunter und drüber."
Was der Agent da so angewidert beschreibt, ist die Heimstatt von Karl Marx. Tatsächlich beabsichtigt der Verdächtige keine Attentate. Er will das System des Kapitalismus zwar stürzen und Massenelend und Armut beseitigen. Allerdings nicht durch Bomben, sondern durch Philosophie.
"Das Reich der Freiheit beginnt, weil das Arbeiten, das durch Not bestimmt ist, aufhört".
Marx will an die Wurzeln des Problems gehen und im wahrsten Sinne radikal sein. Er will die Ökonomie nicht aus der Perspektive der Besitzenden betrachten, sondern von der anderen Seite, aus der Perspektive des Proletariats. Seine Philosophie ist gleichzeitig eine Polemik. Sie soll aufrütteln und den Unterdrückten ihr Elend bewusst machen.
Wenn es sein muss, dann eben mit dem Hammer der Schwarz-Weiß-Perspektive: Der Arbeiter gegen die Besitzenden, der Arme gegen den Reichen, der Ausgebeutete gegen den Unterdrücker. Eine Welt aus Sklaven, Gierigen und Sadisten.
"Das Kapital ist ein Fetisch, dem Leben innezuwohnen scheint wie einem Wesen. Ein beseeltes Ungeheuer ist es’, das zu 'arbeiten' beginnt, als hätt’ es Lieb’ im Leibe’."
Der Klassenkampf, der sich aus diesem Gegensatz erhebt, ist das Rüstzeug und der Kampfappell an das Volk. 20 Jahre lang schreibt Marx an seinem großen Werk, Das Kapital. Als das Buch 1867 endlich fertig ist, da ist die Revolution immer noch nicht eingetreten. Karl Marx wird zum kranken, zornigen Propheten. Er schreibt ein Pamphlet um das andere und wartet auf die Erfüllung seiner Prognose. Auf die Expropriation der Expropriateure.
Hinter dieser kriegerischen Fassade, die sein Andenken prägt, hat Marx mit Akribie und Feinheit dem System nachgespürt, den Kapitalismus erfasst und ihn treffend analysiert. Er erkannte als Erster die Dreifaltigkeit der neuen Gesellschaft: Die Arbeit, den Mehrwert und das Kapital.
Marxʼ zentraler Gedanke der Herrschaft des Ökonomischen über die Gesellschaft wird die nachfolgenden Generationen prägen – bis heute. Viele seiner Erwartungen bestätigten sich, etwa die Konzentrationsprozesse einer sich globalisierenden Wirtschaft, die multinationalen Konzerne, der Druck auf den Faktor Arbeit und die Entmachtung der Politik.
"Eine Gesellschaft, in der die freie Entwicklung eines Jeden die freie Entwicklung Aller ist".
Aber die Revolution, die Marx vorhergesagt hat, ist niemals gekommen. Und sein strenges Gedankengebäude wurde von seinen Jüngern so behandelt, als wäre es ein loser Haufen von Ideen, aus dem man die eine oder andere herausziehen kann, um damit die Welt zu einem Paradies zu machen. Das konnte man nicht.
Der Marxismus in seiner Anwendung auf die reale Welt scheiterte in Russland und Osteuropa, in Kuba, in Angola und auch in China. Es geschah das Gegenteil dessen, wovon Karl Marx geträumt hatte: Dass nämlich "das Reich der Freiheit beginnt, weil das Arbeiten, das durch Not bestimmt ist, aufhört" und dass eine Gesellschaft möglich wird, "in der die freie Entwicklung eines Jeden die freie Entwicklung Aller ist".
Gestaltung
Oliver Tanzer