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Klare Worte
"Notabene 45" - Erich Kästners Tagebuch
In einer neunteiligen Sommerserie bring Ö1 Auszüge aus Erich Kästners Tagebuch der letzten Kriegsmonate, "Notabene 45".
23. September 2018, 16:00
Notabene 45 gelesen von Sven Dolinski und Katharina Knap
26.6. bis 21.8.2018, dienstags um 16:45 Uhr
Das erste Mal liegt fast drei Jahrzehnte zurück und begann mit einem Missverständnis. Das Buch stand im Regal der Eltern, der Autor war ein Begriff, der Titel nicht. Emil, Pünktchen, Anton, die Lottchens und die Schüler des fliegenden Klassenzimmers waren gute Bekannte; was die "Notebene 45" sein sollte, stellte Zwölfjährige vor Rätsel. Der Irrtum war hartnäckig und wurde erst ausgeräumt, als sich so etwas wie Erwachsensein abzeichnete. Zufällig und beiläufig: "Wo ist eigentlich dieses Kästner-Buch, 'Not-Ebene 45'?" - "Not - was??"
Explosives Gemisch aus Unsicherheit & Ungeist
Zweite Lesung dann mit korrektem Titelverständnis und etwas mehr zeitgeschichtlichem Wissen. "Notabene 45", Erich Kästners Erlebnisse zwischen Februar und August 1945. Damals ziemlich riskante stenografische Notizen, vor allem für einen verbotenen Autor, der 1933 der Verbrennung seiner Bücher beigewohnt hatte. Kästner fand schon vor der Diktatur klare Worte für den inhärenten Chauvinismus der Rechten.
"Eines Tages wird man sich erinnern wollen, und dann fehlt es womöglich an Unterlagen!"
Und er ahnte, wie explosiv das Gemisch aus allgemeiner Unsicherheit, wirtschaftlicher Ungleichheit und wachsendem Ungeist sein würde. "Fabian", sein Roman aus dem Jahr 1931, ist eine dunkle Vorahnung von zeitloser Relevanz. "Notabene 45", sein Tagebuch aus den letzten Monaten des sogenannten Dritten Reichs, ist ein Tatsachenbericht, der zeigt, dass so was von so was kommt. Ebenfalls von bleibender Relevanz.
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Erich Kästner
Schalk bleibt Schalk
Kästner bleibt Kästner. Sein Tagebuch, 1961 erstmals in Buchform erschienen, ist teilweise knallhart vergnüglich. Er schildert den Alltag zwischen Bomben in Berlin, sein Entkommen nach Tirol mit einer Filmcrew, das Kriegsende in Mayrhofen und die erstaunliche Anpassungsfähigkeit der österreichischen Bevölkerung an die neuen Verhältnisse in der Besatzungszeit. Schalk bleibt Schalk, totalitären Abgründen und Absurditäten zum Trotz. Kästners Schilderung seiner Musterung für den "Volkssturm" ist schlichtweg komisch, wenn auch unfreiwillig, und endet mit der Bemerkung, er gehöre nun zum Volkssturm, "allerdings zu dessen letztem Aufgebot".
Eine "höchst aktuelle" Mitteilung der "Wirtschaftsgruppe Bekleidungsindustrie" zum Thema "Bewirtschaftung der Nähmaschinennadeln" schreibt er gleich in voller Länge ab. Begründung: "Eines schönen Tages wird man sich der organisatorischen Leistungen der deutschen Gründlichkeit, kurz vorm Zusammenbruch des Dritten Reichs, auch auf dem Gebiete der Nähmaschinennadeln erinnern wollen, und dann fehlt es womöglich an Unterlagen!"
"Kann nicht schreiben, kann nicht denken"
Einem jungen Offizier, der per Leitartikel im "Völkischen Beobachter" junge Soldaten daran erinnert, dass sie als schneidige Hitler-Jungen besser seien als die "im Bolschewismus Abgestumpften", attestiert er: "Er ist das blutverschmierte Werkzeug. Er kann nicht schreiben und nicht denken, doch das ist nicht seine Schuld. Vielleicht ist er ein junger Held. Sicher ist er ein grüner Junge."
"Mehrere Meinungen - das ist ganz und gar nicht selbstverständlich"
ORF/URSULA HUMMEL-BERGER
Als Erich Kästner im Juni 1945 zum ersten Mal seit Jahren wieder eine Zeitung, die den Namen verdient, in Händen hält, schreibt er: "Es gibt, vor aller Öffentlichkeit, wieder mehrerlei Meinungen! Früher einmal war das selbstverständlich. Notabene: Es ist ganz und gar nicht selbstverständlich. Notate bene! Merkt’s euch gut!" Müsste die zeitlose - und vor allem: die aktuelle - Relevanz von Kästners Beobachtungen in nicht mehr als fünf Worten zusammengefasst werden, sie würden lauten: ganz und gar nicht selbstverständlich.
Österreich 1 bringt in einer neunteiligen Sommerserie Auszüge aus Erich Kästners "Notabene 45", gelesen von Sven Dolinski und Katharina Knap.
Gestaltung
- Matthias Däuble