Angela Merkel

AFP/JOHN MACDOUGALL

Radiokolleg

Macht und Ohnmacht des Politischen

15 Jahre ist es mittlerweile her, dass der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch seinen Bestseller "Postdemokratie" veröffentlichte. Politik würde in den demokratischen Staaten zu einer Inszenierung verkommen, so seine These. Zunehmend würden die Wirtschaftseliten hinter verschlossenen Türen alle wichtigen Entscheidung treffen.

In Deutschland wurde der Begriff "alternativlos" zum "Unwort des Jahres 2010" erklärt. Denn so hatte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel immer wieder ihre – durchaus umstrittenen – wirtschaftspolitischen Entscheidungen im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise bezeichnet. Bereits in den 1980ern argumentierte die britische Premierministerin Margaret Thatcher mit dem TINA-Prinzip ("there is no alternative"), wenn es darum ging, Kürzungen im Sozialsystem zu legitimieren.

Margaret Thatcher

AP

Margaret Thatcher

Postdemokratische Postpolitik

Politologen sprechen in diesem Zusammenhang von "Postpolitik": wenn etwas als nicht politisch, sprich: nicht verhandelbar, dargestellt wird, das eigentlich Gegenstand von demokratischen Aushandlungsprozessen sein sollte. Die Sphäre dessen, was als politisch gestaltbar gilt, scheint sich zu verkleinern. Das hat sich insbesondere im Zusammenhang mit der Krisenbewältigungspolitik des vergangen Jahrzehnts gezeigt.

Diese Entwicklung kritisierte der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch bereits vor 15 Jahren in seinem Bestseller "Postdemokratie". Die politische Agenda werde von den Interessen großer Konzerne diktiert, so Crouch. Konservative und sozialdemokratische Parteien würden sich gleichermaßen den "Sachzwängen" und den "Märkten" unterwerfen. Politik sei nicht mehr eine Frage von Inhalten, sondern von Marketing.

Die Globalisierung habe den Handlungsspielraum von nationalen Regierungen begrenzt, so Crouch. Vieles wird über internationale Handelsabkommen geregelt. Transnationale Konzerne üben auf verschiedene Weise Druck auf Regierungen aus: Zum Beispiel mit Hilfe des sogenannten "Standortwettbewerbs". Firmen investieren am liebsten dort, wo sie am meisten Gewinn erwarten, wo Arbeitskräfte billig und Umweltauflagen lasch sind. Crouch nennt das auch "regime shopping".

Konzerne und Staaten: Wer hat wie viel Geld?

Mutlinationale Konzerne haben mittlerweile so viel Vermögen, wie so manche Volkswirtschaft in einem Jahr erwirtschaftet. Die untenstehende Grafik vergleicht die Vermögenswerte von ausgewählten multinationalen Unternehmen mit dem zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) ausgewählter Staaten.

Quelle: Deutsche Bundeszentrale für politische Bildung/UNCTAD: World Investment Report 2016

Jedenfalls sei es nicht weiter verwunderlich, wenn Bürger und Bürgerinnen frustriert seien und sich rechts- oder linkspopulistischen "Anti-System-Parteien" zuwenden, so Crouch. Weder die Wahl Trumps, noch das Ergebnis der Brexit-Abstimmung haben ihn sonderlich überrascht, betont er heute und fühlt sich in seinen Thesen von damals bestätigt. Selbst in wohlhabenden Ländern scheint das Vertrauen in die repräsentative Demokratie zu sinken – quer durch alle Gesellschaftsschichten.

Ungleichheit schadet der Demokratie

Der Verdruss der Bürger und Bürgerinnen hat viele Gesichter. Unter anderem zeigt er sich an den Wahlurnen. Das kann bedeuten, dass Menschen aus Protest ihre Stimme populistischen Parteien geben oder auch, dass sie gar nicht mehr wählen gehen. Studien aus mehreren Ländern haben festgestellt: Die Wahlbeteiligung ist vor allem in jenen Wahlkreisen besonders niedrig, wo die Lebensbedingungen besonders prekär sind. Besonders signifikant ist der Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit. Denn mehr noch als geringes Einkommen, lässt Arbeitslosigkeit Menschen resignieren.

Wir selbst haben uns das am Beispiel der Wiener Bezirke, für die Nationalratswahl im Herbst 2017 angesehen. Es zeigt sich deutlich: Bezirke mit hoher Arbeitslosenrate haben eine geringere Wahlbeteiligung. Zum Beispiel der 10. Bezirk, der 15. oder der 20. – das sind gleichzeitig Bezirke mit geringem Durchschnittseinkommen und eher niedrigen Bildungsabschlüssen. Wer also im 10., 15. oder 20. Bezirk wohnt, dessen Interessen sind im Parlament schlechter vertreten, als die eines Bewohners aus dem reichen 13. Bezirk Hietzing oder aus der bürgerlich-schicken Josefstadt.

Der Verdruss nährt sich auch durch die steigende Ungleichheit, betonen zahlreiche Autoren. Zwar ist der Wohlstand in den meisten Gesellschaften insgesamt gestiegen, davon haben aber nicht alle Menschen gleichermaßen profitiert. Seit den 1980ern wird der soziale Wohlfahrtsstaat sukzessive abgebaut und die Erwartung, dass es jeder Generation besser gehen werde als der vorherigen, wird nicht mehr erfüllt. Die Finanzkrise von 2008 hat das noch verschärft.

Kann Intoleranz demokratisch sein?

Nachdem er sich 2010 in einem zweiten Buch über Postdemokratie ("Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus") den Auswirkungen der Krise auf die Demokratie widmete, beschäftigt sich Colin Crouch derzeit – im dritten Teil – mit der Frage: Ist der Aufstieg des fremdenfeindlichen Populismus ein Ausdruck von Demokratie? Oder sind diese Bewegungen eine Gefahr für das demokratische System? Denn einerseits artikulieren Populisten tatsächlich den berechtigten Frust vieler Bürger/innen gegenüber "postdemokratischer" Parteien und Institutionen. Andererseits fragt sich Crouch: Darf eine Demokratie überhaupt intolerant gegenüber Minderheiten und Andersdenkenden sein? Und: inwiefern sind sogenannte "Anti-System-Parteien" tatsächlich bereit, mit dem System der Postpolitik zu brechen? Noch habe er keine Antworten auf diese Fragen, betont Crouch. Sein neues Buch zur Postdemokratie soll kommendes Jahr erscheinen.

Meinungsumfragen aus verschiedenen Ländern zeigen jedenfalls: immer mehr Menschen wünschen sich einen "starken Mann" an der Spitze des Staates. Doch, was steckt hinter diesem Wunsch? Sehnen viele Menschen tatsächlich eine Diktatur herbei? Oder wünschen sie sich vielleicht ganz einfach eine Politik mit Gestaltungswillen, die den Anspruch hat, den angeblichen "Sachzwängen" zu trotzen?

Ulla Ebner, oe1.ORF.at

Service

Rimini Protokoll
The World Economic Forum
SORA
Progressives Zentrum – Studie: Rückkehr zu den politisch Verlassenen
Springer Link – Studie: "Dem Deutschen Volke? Die ungleiche Responsivität des Bundestags"

Gestaltung