Mann und Frau flirtend, alte Aufnahme, Ausschnitt des Buchumschlags

LUCHTERHAND VERLAG

Familienepos mit ungeahnten Wendungen

"Die Heimkehrer" von Sana Krasikov

Die in der Ukraine geborene und in New York lebende Autorin Sana Krasikov erzählt mit ihrem Familienepos eine Facette der amerikanischen Geschichte, die bisher kaum bekannt ist: In den 1930er Jahren, während der Wirtschaftskrise, bricht eine beachtliche Zahl Amerikaner voller Überzeugung nach Russland auf, um hier ein "ehrliches Leben" im Kommunismus zu finden.

Von Brooklyn nach Magnitogorsk

Als Florence Fein im Jahr 1934 ein Schiff namens "Bremen" besteigt, um ihr amerikanisches Leben für eine Zukunft in Russland auszutauschen, steht ihre Familie fassungslos am Kai. "Du willst in ein Land, in dem sie Leute totschießen, weil sie ihr eigenes Korn essen?", fragt ihr Vater entsetzt und wütend zugleich. Doch Florence hält unbeirrt an ihrem ganz eigenen amerikanischen Traum fest. Sie hat genug vom heimatlichen Stadtviertel Flatbush in Brooklyn.

Sinn und Erfüllung gibt es für sie nicht hier, im Kapitalismus, sondern in der Idee von der klassenlosen Gesellschaft am anderen Ende der Welt. Hier möchte sie sich einbringen, und dabei sein, ein egalitäres Russland mit aufzubauen. Voller Elan macht sie sich auf, um in Magnitogorsk, der Stadt am magnetischen Berg, beim Fabrikbau zu helfen. Anfangs gibt sich Florence noch mit Hingabe einer armseligen Existenz in Arbeiterbaracken hin. Doch sie gerät dabei in eine Falle, aus der es irgendwann kein Entrinnen mehr gibt. Der Roman ist fiktiv angelegt, beruht allerdings auf historischen Fakten.

Meine Eltern waren nicht die einzigen Amerikaner, die nach 1936 in Moskau stranden sollten. Zu Hunderten trieben sie haltlos durch die Sowjetunion, weil sie zu spät begriffen hatten, dass sie bei der amerikanischen Regierung in Ungnade gefallen waren. Der amerikanischen Botschaft war anscheinend jeder Vorwand recht, den Bürgern ihres Landes die Ausstellung neuer Pässe zu verweigern oder auf die lange Bank zu schieben - Pässe, die sie einzig und allein aus selbstverschuldeter Naivität eingebüßt hatten.

Julian im Schreckenssystem

Es ist Julian, der Sohn von Florence und ihrem späteren Mann Leon, ebenfalls ein Migrant aus den USA, aus dessen Perspektive hier immer wieder erzählt wird. Er ist der eigentlich leidtragende der ideologischen Verbohrtheit seiner Mutter, die lange Zeit nicht sehen will, was immer offensichtlicher wird: dass hier keine klassenlose Gesellschaft herrscht, sondern ein Schreckenssystem, das mit Stalins totalitärer Diktatur seinen Höhepunkt erreicht.

Florence wird unfreiwillig sowjetische Staatsbürgerin. Ihre Versuche, zur amerikanischen Botschaft durchzudringen, führen sie in eine kafkaeske bürokratische Verwirrung, die sowohl von den russischen Behörden als auch von der amerikanischen Botschaft kalkuliert sein muss. Sie wird beschattet und schließlich von einem gewissen Herrn Subotin zur Zusammenarbeit mit der Geheimpolizei aufgefordert.

Familienforschung

Immer tiefer gerät Florence, die nun Flora Solomonova heißt, in einen Strudel aus Misstrauen und Angst, der sie im sibirischen Gulag enden lässt. Nach sieben Jahren Arbeitslager holt sie ihren 13-jährigen Sohn Julian als gebrochene Frau aus dem Waisenhaus ab. Was genau damals passiert ist, wieviel Täter und wieviel Opfer in seiner Mutter steckte, und warum sie, auch nachdem ihr größtes Leid angetan wurde, niemals ganz von ihrer Überzeugung für das Land und seine Ideologie loslassen konnte, versucht Julian Jahrzehnte nach dem Kalten Krieg in den Archiven des Geheimdienstes in Moskau zu ergründen.

Wieso überlebte meine Mutter den doppelten Schrecken von Gefängnis und Lager, während mein Vater, der wesentlich umgänglicher war und sich stets besser zu helfen wusste, umkam? Hätte er die Tretmühle aus Verhören und Folter und den Viehwaggon nach Sibirien überstanden, hätte man uns das gesagt, davon bin ich überzeugt. Doch wenn wir in der Eiseskälte um fünf Uhr morgens sinnloserweise bei der Lubljanka vorsprachen sagte man uns bloß, mein Vater sei zu "zehn Jahren Lager ohne Recht auf Briefwechsel" verurteilt worden, ein Euphemismus für Genickschuss, wie jedermann, sogar schon damals, wusste.

Buchumschlag

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Heimkehr ohne Ankunft

Julian erinnert sich nur in Bruchstücken an seine Kindheit in Moskau, an Wohnzimmergespräche der Eltern und deren Freunde, an Misstrauen und Zerwürfnisse. In die "Die Heimkehrer" springt Sana Krasikov kapitelweise durch die Zeit zwischen 1932 und 2008. Denn "Heimkehren", beziehungsweise nie wirklich ankommen tun in dieser Geschichte gleich mehrere Generationen. Julian, der einen Großteil seiner Kindheit im russischen Kinderheim verbringt, zieht später mit seiner eigenen Familie in die USA, die Heimat seiner Eltern.

Sein eigener Sohn Lenni allerdings kehrt als Erwachsener wieder zurück nach Russland. Vater Julian reist ihm hinterher - um seinen Sohn zurückzuholen, und zugleich die Familiengeschichte aufzuarbeiten. Stück für Stück puzzelt er sich zusammen, was ihm seine Mutter ihr Leben lang verschwieg. Über 700 Seiten hinweg vermag es Sana Krasikov, packend zu erzählen. Ein Buch, das sich von einem emotional gehaltenen Historienroman gegen Ende immer mehr hin zu einem Thriller mit ungeahnten Wendungen entwickelt.

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Sana Krasikov, "Die Heimkehrer", Luchterhand Verlag

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