Wandzeile mit Bemalung in Weißrussland

ORF/RAINER ELSTNER

Nebenan: Weißrussland

Eindrücke aus einer terra incognita

Im Rahmen der Ö1 Schwerpunktreihe "Nebenan" rückt im Oktober Weißrussland bzw. Belarus in den Fokus.

1992 erhielt Tamara Vershitskaja, die Direktorin des kurz zuvor eröffneten Museums der weißrussischen bzw. belarussischen Kleinstadt Novogrudok, einen Anruf: Ein Mann wollte wissen, welche Informationen das Museum über die Juden biete. Tamara Vershitskajya gab eine ehrliche Antwort: Keine, und fragte: Welche Juden? Es war der Beginn einer langen Ent- und Aufdeckungsarbeit.

50 Jahre lang hatte niemand über die einstige jüdische Bevölkerung der Stadt gesprochen, obwohl es noch Zeitzeug/innen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs gab. Viele in der Stadt wussten, was sich während der deutschen Besatzung und des Holocausts hier zugetragen hatte, wie sich im Lauf von Tamara Vershitskajyas Recherchen und langen Gesprächen mit der Lokalbevölkerung herausstellte. Doch zu Sowjetzeiten war das Thema weitgehend tabu.

Nebenan-Koordinator Christian Scheib über die Weißrussische Hauptstadt Minsk.

Selbst nach dem Ende der UdSSR und der Unabhängigkeit von Belarus bedurfte es aber des Anstoßes von außen, um mit der Aufarbeitung der Geschichte zu beginnen. Jack Kagan, ein Überlebender des Novogrudoker Ghettos, der nach dem Krieg nach Großbritannien emigrierte, sammelte sein Leben lang Informationen zu der im Zweiten Weltkrieg vernichteten jüdischen Kultur in Belarus.

So erfuhr er auch sofort von der Eröffnung des Regionalmuseums und wollte seinen Beitrag leisten. Heute gibt es im ehemaligen Ghetto zwei Ausstellungsräume, und auch Spuren des Tunnels, über den 1943 mehr als 200 Juden aus dem Ghetto flüchteten, sind freigelegt. Dank dieses Tunnels überlebten auch Vorfahren von Jared Kushner, dem Schwiegersohn von Donald Trump.

"The last way", Holocaust-Denkmal in Minsk

"The last way", Holocaust-Denkmal in Minsk

AP/SERGEI GRITS

"Novogrudok: The History of a Shtetl" nannte Jack Kagan eines seiner Bücher. Als Schtetl wurden Siedlungen mit einem hohenm jüdischenm Bevölkerungsanteil (50 oder mehr Prozent) im heutigen Polen, in Belarus und in der Ukraine bezeichnet. Aus dem Gebiet von Belarus stammte unter anderem der erste israelische Staatspräsident, Chaim Weizmann. Doch im Holocaust wurde diese Welt ausgelöscht.

Inzwischen gibt es in allen Teilen von Belarus Initiativen, die sich um eine differenzierte Aufarbeitung nicht nur der jüdischen, sondern der gesamten Geschichte von Belarus bemühen. Es ist in vielen Bereichen weiterhin ein heikles und schwieriges Terrain. Denn mit der Geschichtsaufarbeitung verbunden sind Fragen zur eigenen Identität und Kultur. "Das Regime hat Angst, dass die Gesellschaft stärker und kritischer wird", formuliert es die Philosophin und Publizistin Olga Shparaga. "Neben der Geschichte könnte eine selbstbewusstere Gesellschaft auch die aktuelle Politik hinterfragen und Reformen einfordern."

Aljaksandr Lukaschenka

Aljaksandr Lukaschenka

AFP/VASILY FEDOSENKO

Als "letzter Diktator Europas" wird der belarussische Präsident Aljaksandr Lukaschenka im Westen bezeichnet. Seit 24 Jahren regiert er autokratisch das Land. Seit 2015 gibt es zumindest keine politischen Gefangenen mehr, weshalb die EU, die eine Zeit lang Sanktionen gegen Belarus verhängt hatte, wieder um intensivere Zusammenarbeit bemüht ist.

Passant auf der Straße in Weißrussland

ORF/RAINER ELSTNER

Seit dem EU-Beitritt von Polen, Lettland und Litauen grenzt Belarus direkt an die EU, und eine stabile Außengrenze ist erklärtes Ziel von Brüssel. Belarus selbst ist vor allem seit der Annexion der Krim durch Russland und dem Krieg in der Ostukraine darum bemüht, die eigene Unabhängigkeit zu untermauern. Wirtschaftlich will man diversifizieren, politisch will man sich als Treffpunkt zwischen West und Ost, zwischen der EU und dem großen östlichen Nachbarn Russland positionieren.

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