Tisch mit einem Buchaufsteller

ORF/JOSEPH SCHIMMER

Jänner

Gabriela Adamesteanu: "Verlorener Morgen"

Gabriela Adamesteanus erstmals ins Deutsche übersetzter Roman über die tristen Lebensumstände im Bukarest der 1980er Jahre ist das "Ö1 Buch des Monats".

Jurybegründung: "Eine allwissende, personale Erzählerin, innerer Monolog, Traumszenen und Dokumente - eine mit allen Wassern der Moderne gewaschene Autorin kurvt durch das rumänische 20. Jahrhundert. ‚Verlorener Morgen‘ ist ein großer erzählerischer Wurf."

Ex libris | 16 12 2018

Jörg Plath

Ein kompositorisches Meisterwerk

Gabriela Adamesteanu, geboren 1942, ist eine Dame. Sie würde sich nie als mutig bezeichnen, obwohl ihre Haltung in der rumänischen Revolution und danach wohl nicht anders zu nennen ist: Vor dem Sturz Ceausescus unterschrieb sie einen Protestaufruf von Radio Free Europe, danach gab die Schriftstellerin, Lektorin und Übersetzerin aus dem Französischen die Zeitschrift "22" der Bürgerrechtler heraus. Dass sie auch in den Jahren davor nicht zu den Speichelleckern gehörte, legt ihr 1983 erschienener Roman "Verlorener Morgen" nahe.

Es ist ein erstaunliches Buch: Nicht nur die Hauptfigur Vica Delca ist kriecherisch bis zur Selbstaufgabe und hält sich für diese vermeintlich erzwungene Subordination zugleich schadlos, indem sie innerlich gegen alles und jeden wütet. Im Zerrspiegel von Opportunismus und Aggression ruft Adamesteanu Umgangsformen und Machtfülle des untergegangenen rumänischen Bürgertums herauf. Schon kompositorisch ist der Roman ein Meisterwerk. Zumal er Rumäniens Geschichte im 20. Jahrhundert in einen einzigen Tag packt.

Eine Straßenbahnfahrt durch die Geschichte

Der Roman beginnt an einem Wintermorgen in Bukarest, Anfang der 1980er Jahre. Der ehemaligen Schneiderin und Ladenbesitzerin Vica fällt zuhause die Decke auf den Kopf. Also zieht sie ihren verblichenen blauen Mantel an und schließt erleichtert die Tür hinter ihrem Mann, den sie nur "das alte Rindviech" nennt.

Die über siebzigjährige Frau macht sich mit der Straßenbahn auf den Weg quer durch Bukarest, und die Fahrt durch die Stadt wird zur Fahrt durch Erinnerungen und Biografien, vor allem weibliche. Vica spricht ein hartes, verbittertes Straßenparlando, ihre meist bürgerlichen Gegenüber wählen die Worte. Der von Eva Ruth Wemme übersetzte Roman ist vor allem eine unterhaltsame Leistungsschau der Erzählperspektiven.

Ein Wiedergewinnen verlorener Zeit

Mehr noch als ein Roman über Frauenschicksale ist "Verlorener Morgen" eine Suche nach der verlorenen Zeit; Gabriela Adamesteanu verfasste über Marcel Prousts "Recherche" ihre Examensarbeit. Verloren ist das bürgerliche Rumänien der vorkommunistischen Ära, und mit ihm haben die Überlebenden einen Teil ihres Lebens eingebüßt, das sie - durch Bukarest gehend, erzählend, sich streitend und sich erinnernd, keifend und lärmend - im Fegefeuer des Gesprächs wiederzugewinnen trachten. Dabei ergeben sich zuweilen Längen. Dennoch ist "Verlorener Morgen" ein großer erzählerischer Wurf, denn die verlorene Zeit wiederzugewinnen, konnte im Rumänien Ceausescus nicht einmal Gabriela Adamesteanu erhoffen

Service

Gabriela Adameşteanu, "Verlorener Morgen", Roman, aus dem Rumänischen von Eva Ruth Wemme, Die Andere Bibliothek