ORF/JOSEPH SCHIMMER
Ö1 Kunstgeschichten
"Autobahn" von Andreas Jungwirth
Die Ö1 Erstveröffentlichungsreihe "Kunstgeschichten" widmet sich dem Kunstblick von Autorinnen und Autoren: Gemälde, Skulpturen, Grafiken oder Videokunst dienen als Ausgangspunkt für literarische Reflexionen. Den Auftakt macht der Wiener Autor Andreas Jungwirth mit einem Text, in dem er ein Land-Art-Objekt von Prinzgau/Podgorschek als Ausgangspunkt für Familienerinnerungen wählt. Redaktion: Edith-Ulla Gasser.
17. Mai 2019, 14:36
Neue Texte | 05 05 2019
Ö1 Kunstgeschichten - "Autobahn" von Andreas Jungwirth. Es liest Karl Markovics
Von hundertdreißig auf null. Innerhalb weniger Sekunden. Mitten auf der Autobahn. Am Horizont verschmilzt das Asphaltband mit dem blauen Himmel. Die Autos vor mir verkleinern sich rasend schnell auf Spielzeuggröße. Im Rückspiegel ein schwarzer SUV. Ohne zu hupen oder zu bremsen, rast er auf mich zu. Kapiert der Fahrer erst einmal, dass ich stehe, wird es zu spät sein. Den Aufprall überlebe ich vielleicht noch. Aber wenn zwei Tonnen Stahl und Blech meinen Wagen ein paar hundert Meter weit vor sich herschieben, bis er nach rechts ausschert, die Leitplanken rammt, sich aufbäumt, abhebt und mit den Rädern nach oben durch die Luft fliegt … sobald ich auf der Autobahn unterwegs bin, kommen früher oder später solche Gedanken. Ich vertreibe mir die Langeweile auf längeren Fahrten damit, so wie ich die Zeit in der U-Bahn damit verbringe, mir vorzustellen, dass ich ein berühmter Fernsehnachrichtensprecher bin, aber alle um mich herum so tun, als würden sie mich nicht erkennen. Warum sollte ich jemals wirklich Nachrichtensprecher werden? Ich werde es auch niemals ausprobieren, mitten auf der Autobahn stehenzubleiben, auch heute nicht - auf dem Weg zu meiner Tante Antonia.
ORF/JOSEPH SCHIMMER
Andreas Jungwirth, Jahrgang 1967, wurde in Linz geboren. 1992 gründete er gemeinsam mit Wolfgang Heisig das Kleintheater Zwirn. In Folge entstanden erste eigene Texte, 1997 das Hörspiel "Madonnenterror", das vom ORF produziert wurde. Der Autor und Schauspieler lebt nach 20 Jahren in Berlin seit 2010 wieder in Wien.
Seine Theaterstücke wurden u.a. am Landestheater Linz, dem Schauspielhaus Wien und dem Thalia Theater Hamburg aufgeführt. Originalstücke und Bearbeitungen fremder und eigener Texte entstanden für den ORF, WDR, NDR, MDR und das Deutschlandradio Berlin. Im Juni 2019 wird sein neues Originalhörspiel "Auf die Natur kann man nicht böse sein" vom HR/MDR realisiert, und im Herbst 2019 erscheint in der Edition Atelier die Erzählung "Wir haben keinen Kontakt mehr".
Wie das war bei meinem Großvater, will ich wissen - die letzten Wochen seines Lebens, an die sich meine Mutter, die erst nach seinem Tod geboren wurde, nicht erinnern kann. Geradezu euphorisch stimmte die Tante am Telefon zu, meine Fragen zu beantworten - mit einer für eine Achtzigjährige überraschend mädchenhaft flirrenden Stimme. Komm um die Mittagszeit, schlug sie vor, zum Essen. Einverstanden. Fährst du mit dem Bus? Mit dem Auto. Sehr gut. Ich bin immer gerne Auto gefahren. Dein Großvater übrigens auch.
Als der Krankenpfleger Leopold E. im Frühsommer 1944 in seiner Dienstwohnung des Linzer Wagner Jauregg Krankenhauses starb, nahm er den Wunsch, ein eigenes Auto zu besitzen, mit ins Jenseits. Im Diesseits hinterließ er bittere Armut.
Das Haus meiner Tante liegt am Ende einer Straße, an der in den 60er Jahren Einfamilienhäuser errichtet wurden. Sie serviert Schweinebraten mit Erdäpfeln. Die Erdäpfel ärgern sie: Schau sie dir an! Sie hat ihrer Enkeltochter zeigen wollen, wie aus den Knollen vom Vorjahr neue, prächtige Kartoffel wachsen. Als sie sie ausgegraben haben, sind es bloß Zwutschgerl gewesen.
Er wurde als Sohn eines Bauern geboren, sagt Tante Antonia über meinen Großvater, aber als sein jüngerer Bruder vor ihm geheiratet hat, war auf dem Hof kein Platz mehr für ihn. Er ging nach Linz, zog weiße Hemden an und wusch sich mit Seife, die gut roch. Und er lernte viel. Bald wusste er, wie ein Mensch gemacht ist. Er wusste wie die Ohren funktionieren und warum man den Kehlkopf zum Reden braucht. Er wusste auch, dass man als Krankenpfleger für Geisteskranke mehr bezahlt bekommt als in einem gewöhnlichen Spital.
Beginnen wir im April '44, schlägt sie vor, zwei Monate vor dem Tod deines Großvaters.
ORF/JOSEPH SCHIMMER
In einem der Innenhöfe des Krankenhauses kniet ein alter Mann mit einem Hammer in der rechten Hand. Mit großer Geduld klopft er auf einem Holzbock rostige Nägel gerade. Antonia und Marie halten sich an den Händen und schauen dem Mann beim Nägelklopfen zu. Sein Kinn und seine Nase sind blutverkrustet, als hätte ihm jemand eine Faust ins Gesicht geschlagen (sagt Antonia), als wäre er gegen eine Mauer gerannt (sagt Marie). Der Nagel ist schon längst gerade und der Mann klopft immer noch. Da ruft Marie zu ihm hinüber: Du kannst aufhören, du Depp! Ohne zu ihnen herzusehen, hört der Mann auf mit dem Hammer auf den Nagel zu dreschen, wirft ihn in den Eimer zu den anderen, nimmt den nächsten verbogenen Nagel vom Boden und beginnt wieder zu klopfen. Diesmal ist es Antonia, die schreit: Aufhören, du Depp! Und wieder fällt der Nagel zu den anderen Nägeln in den Eimer: Pling! Ing - ing - ing - die Freundinnen kichern. Auf dem Weg nach Hause fragen sie sich, was der Mann wohl tut, wenn er alleine ist. Haut er dann den ganzen Tag mit dem Hammer auf immer denselben Nagel ein? Wäre dem Idioten zuzutrauen!
Vor dem Angestelltentrakt lungern große, schlanke Soldaten in braunen Uniformen. Eine Hand in der Hüfte, lehnen sie wie verbogene Nägel an der Hausmauer. In den Mundwinkeln hängen Zigaretten. Sie sind seit ein paar Wochen hier einquartiert. Die Soldaten stecken die Köpfe zusammen, schließlich schicken sie einen vor, um Marie und Antonia abzufangen. Bleibt stehen! Ich will mit euch reden! Wir wollen wissen: Wer von euch hat die hübschere Mama? Toni ist sich ihrer Sache sicher: Meine. Maries Mutter ist zwar die Frau Primar, aber hübsch ist sie nicht, bloß feiner, Kleider aus glänzenden Stoffen und Hüte mit Fasanenfedern. Meine, platzt Marie heraus. Meine ist ganz klar hübscher. Die Augen des Soldaten gehen ein paar Mal zwischen den Mädchen hin und her. Antonias Herz schlägt ihr bis zum Hals und ihre Backen färben sich rot. Sie will unbedingt, dass ihre Mutter gewinnt. Schließlich sagt der Soldat: Ich bin mir ganz sicher: Deine. Er zeigt auf Antonia. Marie spukt auf den Boden und läuft weg. Der Soldat schaut jetzt nur noch Antonia an, mit traurigen Augen, als würde er gleich losheulen. Aber ein Soldat darf doch nicht weinen, oder?
Leopold, du musst aufpassen, du bist viel älter als deine Frau und du bist vor lauter Überstunden immer auf der Station und bist du dir sicher, dass dir deine Frau nicht einmal kurz auf die Seite gegangen ist, jetzt, wo so viele Burschen im Haus sind? So haben seine Kollegen damals geredet. Dann wäre der Leopold ja gar nicht mein Großvater, überlege ich. Es war wirklich nur ein Gerede, bestätigt die Tante. Bist du sicher? Natürlich bin ich mir sicher. Kennt meine Mutter dieses Gerede? Nein, sagt die Tante, nein, ich denke nicht.
ORF/JOSEPH SCHIMMER
Seit einer Woche kommt Leopold mittags nach Hause und legt sich für eine Stunde aufs Ohr. Antonia weiß nichts von der Krankheit, die ihn neuerdings so schnell erschöpft. Sie freut sich, weil der Papa da ist. Er sagt so schöne Sachen: Wenn man sieht, wie die alten Kastanienbäume vom Fenster blühen, denkt man nicht an den Tod, sondern ans Leben - zum Beispiel. Als Antonia an diesem Tag im April '44 ins Zimmer kommt, liegt er schon auf dem Sofa. In der Sonne ist sein Gesicht fast farblos. Auf Zehenspitzen geht sie zu ihm hin, setzt sich auf den Holzboden, spreizt die Finger zu einem Kamm und frisiert seine schönen, schwarzen, festen Haare. Leopold öffnet die Augen und schließt sie gleich wieder - als wollte er nur ganz sicher gehen, welches von seinen beiden Kindern das ist - Antonia (die Toni) oder der Otto. Toni - kannst du es noch, fragt er mit seiner tiefen Stimme, die so tief ist, dass man sie im Magen spürt. Er meint den Reim, den er ihr vor ein paar Tagen beigebracht hat. Er fragt, als hätte er ihr etwas zur Aufbewahrung anvertraut und wolle nun wissen, ob sie es eh nicht verloren hat. Antonia streicht ihm weiter durchs Haar und singt: Springt ein Hirsch übern Bach, brockt sich zwei zwig’spitzerte, drig’spitzerte Birnbaumblätter von dem Baum ab. Da sagt der Fuchs, das ist ein Mann, der sich zwei zwig’spitzerte, drig’spitzerte Birnbaumblätter von dem Baum abbrocken kann. Dann ruft die Mutter zum Essen. Es gibt Spinat und Spiegelei.
Spinat - also muss das ein Donnerstag gewesen sein, überlegt meine Tante. Bist du sicher, Natürlich bin ich mir sicher, wischt sie meine Frage beiseite. Ich werde doch nach achtzig Jahren noch wissen, was wir gegessen haben.
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Über dem Sofa hängt das Hitlerbild, in der Ecke ein Kreuz. Sie halten sich an den Händen und sprechen das Tischgebet. Der Vater schweigt. Sein Spruch lautet: Ich glaube weder an den einen noch an den anderen - Amen. Nach dem Essen will Otto das Fragespiel spielen. Einer darf eine Frage stellen. Wer die Antwort zuerst weiß, die nächste Frage. Man kann auch lügen, aber die Antwort muss glaubwürdig sein. Otto schlägt seine Kinderhände vors Gesicht und tut so, als würde er angestrengt nachdenken. Mach schon!, mault Antonia. Wer gewinnt den Krieg?, flüstert er hinter den Händen. Antonia schreit: Hitler gewinnt den Krieg. Wieso weißt du das? Die Besseren gewinnen den Krieg. Krieg ist kein Spiel, sagt die Mutter. Außerdem darfst du nur eine Frage stellen! Fangen wir nochmals an. Gut. Otto, du! Wieso der Otto? Ist doch egal. Nein, ist es nicht. Sei vernünftig, Toni, du bist die Ältere! Also. Aber nicht nochmals über den Krieg! Welches Auto wünscht sich der Papa? Gut so. Also! Noch ehe der Vater antworten kann, platzt Otto damit heraus: Einen Mercedes Benz 170V. So einen, wie Maries Vater bekommt?, fragt Antonia. Die Augen des Vaters werden groß wie Kinderaugen zu Weihnachten. Antonia ist nicht zu bremsen, zu phantastisch ist das, was Marie ihr erzählt hat: Im Volksempfänger hat jemand gesagt, dass jetzt Autobahnen gebaut werden. Und sie hat gemeint, dass ihr Vater dann mit dem Mercedes Benz über die Autobahn fahren wird, mit 300 Km/h! Du bist echt eine Idiotin, zischt Otto quer über den Tisch. 300 Km/h! So schnell kann kein Auto. Idiot sagt man nicht in meinem Haus, stellt der Vater fest. Du hast es grad selbst gesagt, ruft Otto. Maul halten!, schreit der Vater und schlägt so fest auf den Tisch, dass die Gläser klirren. Warum haben wir eigentlich keinen Volksempfänger, so wie die Eltern von der Marie, legt Antonia nach. Sie darf auch nur eine Frage stellen!, protestiert Otto. Das interessiert aber niemand mehr. Wir haben eben keinen. Weil der Vater von der Marie Primar ist?, vermutet Antonia. Das hat nichts damit zu tun was ich bin oder nicht bin, erklärt der Vater. Das hat mit anderen Dingen zu tun. Und es hat damit zu tun, dass ich schwarz höre. Jetzt ist aber wirklich Schluss!, befiehlt die Mutter und schaut Otto an: Heute bist du dran: Schaff das Geschirr in die Abwasch. Und du Toni, dass du ja nicht mit der Marie darüber redest!
Während der nächsten Tage häufen sich die Fliegeralarme. Ist der Vater zuhause, muss er in den Dienst. Ist er ohnehin im Dienst, bleibt er dort. Für die schwangere Mutter und die Kinder ist in der Wohnung ein Tischtuch vorbereitet, da kommt das G‘wand hinein. Den kleinen Bruder hebt die Mutter in den Kinderwagen, dann legt sie ein Brett quer, da setzt sie die Antonia drauf, und los geht’s: sie rennen den Gang entlang und rumpeln die Stiege hinunter. Bald geht das fast jeden zweiten Tag so. Als wieder einmal die Sirenen aufheulen, läuft Antonia von unten nach oben in die Dienstwohnung. Sie vergisst ihre Puppe im Hof. Später ist die Puppe weg. Jemand muss sie genommen haben. Wenn etwas fehlt, dann heißt es, das waren die Soldaten. Die nehmen alles, auch die Frauen. Das mit den Frauen leuchtet der Antonia noch irgendwie ein, aber was sollen Soldaten mit einer Puppe? Auch Soldaten haben Kinder. Vielleicht bringt einer die Puppe mit, wenn er nach Hause fährt. Eine Gemeinheit ist das! Hast du nie gesehen, wie traurig die Soldaten sind, versucht es die Mutter. Doch, hab ich, gibt Antonia zu. Sie sind traurig, weil sie ihre Kinder vermissen. Antonia nickt und denkt an menschliche Wesen in Kindergröße, deren Gesichter und Namen sie nicht kennt. Das mit der Puppe wird so ein bisschen weniger schlimm.
ORF/JOSEPH SCHIMMER
Als der Vater nachts vom Dienst kommt, erzählt ihm die Mutter die Geschichte von dem verlorenen Spielzeug. Und da kriegt der Vater einen Zorn und reißt die Antonia aus dem Schlaf und verdrischt sie. Wir sind keine Bauern, schreit er, wir haben keine Milch und keine Eier, wir haben nichts, was wir eintauschen können. Während seine Hand auf ihrer nackten Haut knallt, riecht Antonia die gute Seife. Als Antonia am nächsten Morgen munter wird, ist sie mit dem Vater alleine. Ist die Mami nicht da? Der Vater sagt: Die Mama ist fortgegangen, weil du so schlampig bist.
Noch heute, achtzig Jahre später, tut meiner Tante das Herz weh, wenn sie daran denkt.
Toni flennt Rotz und Wasser. Wenn die Mama weggegangen ist, will sie auch nicht mehr. Aber wenn die Mama sie nicht mehr …, wo soll sie dann …? Sie will nirgendwo ... Sie will tot … Schließlich erbarmt sich der Vater: Hörst du das Wasser rinnen? Ja, sie hört das Wasser rinnen. Das kommt aus der Waschküche. Na dann, dann schau mal nach!
ORF/URSULA HUMMEL-BERGER
Der vielfach ausgezeichnete Schauspieler und Regisseur Karl Markovics wurde 1963 in Wien geboren. Bekannt ist er unter anderem für die Darstellung des Salomon Sorowitsch, der männlichen Hauptrolle im Oscar-gekrönten Film "Die Fälscher" von Stefan Ruzowitzky.
Mein Großvater war ein brutaler Hund. Nein, sagt meine Tante Antonia, so kann man das nicht sagen. Er hat dich verdroschen und belogen. Ein Mensch ist vieles gleichzeitig. Und man darf nicht nur das eine sehen. Dein Großvater war auch ein Könner. Er konnte alles. Zum Beispiel Autofahren, obwohl er es nie gelernt hat. Und er konnte ein Einsehen haben, dass er was falsch gemacht hat. Und er roch gut.
Zu dieser Zeit wird im Angestelltentrakt viel über einen Vorfall gesprochen, der sich ein paar Tage zuvor zugetragen hat. Am Dachboden waren, hoch oben auf den kräftigen Holzbalken, Sandsäcke abgelegt. Im Falle eines Feuers sollten sie den Brand eindämmen. Eines Morgens lagen sie alle unten auf dem Boden, aufgeplatzt. Irgendwer musste dort oben gewesen sein und sie heruntergerannt haben. Diesmal kommen nur die wenigsten auf die Idee, die Soldaten könnten etwas damit zu tun haben. Die einen sagen, das war ein Dummebubenstreich, die anderen reden von Sabotage. Ein Teil des Sandes war in den Spalten zwischen den Dielen versickert. Drei Männer haben zwei ganze Tage daran gearbeitet den Rest aufzuschaufeln, ihn mit Hilfe von Kübeln und einem Flaschenzug nach unten zu bringen und durch ein Kellerfenster in den Luftschutzraum zu schütten. Jetzt spielen Antonia und die anderen Kinder im Sand, wenn die Jagdflieger über die Stadt donnern. Angst hat Antonia keine, selbst wenn sie Detonationen hört - hat sie nie gehabt. Das ändert sich, als eines Tages auch Barmherzige Schwestern im Keller sind. Beim Fliegeralarm hatten sie gerade dem Krankenhaus eine Visite abgestattet. Die Nonnen sitzen vorne bei der Tür und beten und singen mit ihren hellen Stimmen: Dominus vobiscum Dominus vobiscum.
Meine Tante schließt die Augen: Ich höre sie heute noch.
Hörst du die Engel singen, fragt Otto plötzlich - ganz nah an ihrem Ohr. Das kann nur heißen - wir sind tot. Otto ist zufrieden. Antonia kriegt Panik. Sie schreit und schlägt um sich. Mit Hilfe anderer Frauen hält die Mutter sie fest, sie fixieren sie am Boden, so wie oben in den Stationen die Narrischen festgebunden werden. Antonia schreit bis die Nonnen zu singen aufgehört haben. Von diesem Tag an versetzt sie das Dröhnen der nahenden Flieger in Angst und Schrecken. Noch zwanzig Jahre später - wenn sie einen Flieger hört, schlägt ihr das Herz bis zum Hals. Ihr ganzes Leben lang steigt sie in kein Flugzeug. Umso lieber fährt sie Auto. Viel lieber als Fürsorgerin wäre sie überhaupt Lastwagenfahrerin geworden. Sie und ihr Mann kaufen drei Autos. Das Auto ist immer ihre Sache. Sie wäscht und putzt es, sie kann schön einparken, auch verkehrt. Sie schaut ob das Batteriewasser passt und das Öl. Sie wechselt die Reifen selbst, und sogar die Bremsscheiben. Das erste Auto ist ein Opel Kadett, gebraucht. Den zweiten mag sie nicht, ein Fiat - ein geschicktes Auto, aber so hochtourig. Ein Auto wie ein junger Hengst. Erst das dritte Auto ist neu: Ein 626er Mazda, den liebt sie, der ist ein wenig so ein - wie ein - wie ein Büffel - mit dem kann sie gut auf der Autobahn fahren, der liegt souverän auf der Straße …
ORF/JOSEPH SCHIMMER
Am 24. Mai 1944, einem Mittwoch, klingelt es um 15 Uhr 33 in der Dienstwohnung des Krankenpflegers Leopold E. Antonia wird von der Mutter an die Tür geschickt. Sie öffnet. Drei Männer in Uniformen stoßen sie zur Seite. Keinen von denen hat sie unter den Soldaten im Hof gesehen. Außerdem tragen sie andere Uniformen. Die Mutter zieht Otto und Antonia aufs Sofa. Sie presst die Knie zusammen, so fest, dass dort, wo sie sich berühren, die Haut ganz weiß wird. Mit der Rechten umklammert sie Antonias Hände, mit der Linken Ottos. Drei Paar Stiefel stapfen durch die Wohnung, treten hart auf den Holzdielen auf. Die Männer reißen alle Schränke auf, Schubladen, alles heraus, egal, wo es landet, und drehen alles um, sogar die Matratzen. Die Mutter redet auf die Kinder ein. Sie sagt ihnen, dass die ihnen nichts machen würden. Dass das ein Spiel ist. Dass die nur etwas suchen. Ein Versteckspiel?, fragt Otto. Genau. Antonia hat die ganze Zeit die schwarzen Stiefel im Visier, hohe, anliegende, glänzende Stiefel. Solche will ich auch einmal haben, denkt das fünfjährige Mädchen. Mit solchen Stiefeln kann man fest auf dem Boden stehen und marschieren kann man auch und wenn nötig kann man damit jemandem in den Arsch treten. Die Mutter redet immer weiter. Antonia hat ihr von Anfang an kein Wort geglaubt. Als einer der Männer das Kreuz von der Wand reißt und über dem Knie in Stücke zerbricht, schreit die Mutter auf. Ruhe, brüllt der Soldat. Als die Männer weg sind, will Otto wissen, ob sie etwas gefunden haben. Die Mutter zuckt nur mit den Schultern. Die waren wegen Papa da, oder?, fragt Otto. Die Mutter zuckt wieder mit den Schultern.
ORF/JOSEPH SCHIMMER
Prinzgau/Podgorschek, "Die Entdeckung der Korridore", Kulturlandschaft Paasdorf
Als die Männer weg sind, putzt die Mutter die Wohnung, wie sie es sonst jeden Samstag tut, nur noch gründlicher, sie schrubbt und bohnert und schleppt die Kübel mit dem schmutzigen Wasser in den Hof. Der Vater kommt erst zwei Tage später wieder nach Hause.
Jahre später, sagt meine Tante, habe ich mich oft gefragt, ob ich … ich frage mich, ob ich etwas zur Marie gesagt habe. Über das Schwarz-Hören? Vielleicht habe ich ja. Und Marie hat … Aber ich kann mich nicht erinnern. Meine Tante verstummt. Glaubt sie wirklich, sie sei schuld daran, dass man ihren Vater für zwei Tage in eine Zelle gesteckt hat? Er wurde freigelassen, sage ich. Außerdem … du kannst dich daran erinnern, was ihr vor achtzig Jahren gegessen habt, Spinat mit Spiegeleiern, du würdest dich auch daran erinnern. Sie hebt ihren Blick in meine Richtung, schaut aber durch mich hindurch. Willst du noch Kaffee?, fragt sie. Willst du eine Pause machen? Sie schüttelt den Kopf. Worüber willst du sprechen? Über etwas, an das ich mich nicht wirklich erinnere, aber …
… da war ein Bub in Papas Abteilung. So alt wie Otto. Sein Vater war Jude. Das hat mir die Mama erzählt, Jahre später. Das Kind war Bettnässer, und der Arzt - der Vater war Arzt - hat den Buben zur Behandlung gebracht. Der Papa hat Kinder von Haus aus mögen. Und besonders gern hat er diesen Buben gehabt. Und dann hat er einmal keinen Dienst gehabt. Trotzdem will er den Buben besuchen. Sie haben ihn nicht zu ihm gelassen. Wer hat ihn nicht zu ihm gelassen? Ich weiß nicht, die anderen Pfleger, der Primar. Aber der Bub hat wohl mitgekriegt, dass der Papa da war und er hat geschrien, Herr Leopold! Herr Leopold! Und dann, am nächsten Tag, ist er tot gewesen. Jahre später hat die Mama gesagt, den haben sie zu Tode gespritzt. Ich war ja damals auch noch ein Kind. Ich weiß nur, was die Mama erzählt hat.
Als der Vater so hohes Fieber bekommt, dass er nicht mehr in die Arbeit gehen kann, schleicht Antonia sich manchmal, nachmittags, ins Schlafzimmer, neben das Bett. Ihr Herz schlägt. Wenn sie die gute Seife riecht, wird sie ruhig. Dann spreizt sie die Finger zu einem Kamm, aber sie greift nicht in seine Haare. Antonia ballt die Finger zu einer Faust. Mit der Faust schlägt sie gegen ihre Brust. Einmal steht der Vater, als sie das Zimmer betritt, am offenen Fenster. Er steht mit dem Rücken zu ihr, halb vom Licht des Fensters zurückgetreten, sodass man ihn von unten nicht sehen kann. In dem Trakt auf der anderen Seite des Hofs steht ebenfalls ein Fenster offen. Dort wohnt der Oberpfleger Kehrer. Der Vater hebt die Hand, zeigt etwas mit den Fingern. In diesem Augenblick bauscht der Wind den Vorhang und der Vater dreht sich nach ihr um. Antonia, sagt er mit seiner tiefen Stimme. Einfach nur: Antonia - als wollte er den Namen einfach nur klingen lassen. Als sie nochmals über den Hof schaut, ist das Kehrer-Fenster geschlossen. In der Scheibe spiegelt sich die gegenüberliegende Fassade und ein Stück blauer Himmel.
Sein Herz ist jetzt im Himmel, wird den Kindern gesagt, als der Vater vier Wochen später tot ist. Otto will ihn um keinen Preis nochmals sehen. Antonia geht mit der Mutter in die Kapelle des Krankenhauses, wo er im offenen Sarg liegt. Aus der Kiste mit ihren Schätzen hast sie ein Bild vom Jesukind mitgebracht. Sie geht ganz nah zum Papa, legt ihm das Bild auf die Brust. Dann zieht sie ganz vorsichtig Luft durch die Nase ein. Der Vater riecht nicht mehr. Er riecht nicht mehr nach der guten Seife.
Was hat mein Großvater da am Fenster gedeutet? Was hat das bedeuten sollen? Es gab damals das Gerede, dass der Papa und der Oberpfleger Kehrer und noch andere im Widerstand gewesen sind, sagt Tante Antonia. Vielleicht hatte es damit zu tun. Woran ist er eigentlich gestorben? Er wollte nicht mehr leben, sagte die Mutter später, erzählt die Tante. Und woran ist er wirklich gestorben? Die Mama hat immer gesagt, erzählt die Tante, der Papa hat ein gefrorenes Blut, weil er im Ersten Weltkrieg von einer Lawine verschüttet worden war. Und manchmal war sein Herz wie aus Stein. Und er hatte einen Betonkopf. Im Totenschein steht: Leukämie.
Am Tag des Begräbnisses sieht Antonia ihre Mutter zum ersten Mal mit einem Hut. Sie hat ihn sich von der Frau Primar geliehen und sieht schön aus damit. Antonia trägt ein Kleid von Marie. Die Leute stehen Spalier. Die Mutter weist Otto an der Rechten und Antonia an der Linken bis zum Grab. Langsam wird der Sarg hinuntergelassen. Dann wird Erde darauf geschüttet.
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Das war eine scheußliche Zeit, sagt Tante Antonia. Und dann graben sie die Sachen auch noch aus. Ich habe unlängst im Fernsehen gesehen, dass sie irgendwo in Niederösterreich ein kurzes Stück Autobahn vom Hitler ausgegraben haben. Wozu machen die das? Wozu gibt man dafür Geld aus? Ich habe das auch gesehen, sage ich, aber das ist keine wirkliche Ausgrabung. Hitler hatte dort nur eine Autobahn geplant, sie wurde nie realisiert. Die haben etwas ausgegraben, was es gar nicht gibt?, fragt meine Tante verwirrt. Das ist ein Kunstwerk, erkläre ich. Und wer macht sowas? Ich kann mich nicht erinnern und ziehe mein Smartphone heraus: Prinzgau/Podgorschek, lese ich vor. Von so einer Kunst verstehe ich nichts, sagt meine Tante und schüttelt den Kopf. Reine Geldverschwendung!
Antonia ist zwanzig, als sie in Linz in eine Parfümerie geht. Zu der Verkäuferin sagt sie, ich habe von meiner Kindheit einen Duft im Kopf, das ist eine Herrnseife gewesen, die hat nach Weihrauch und nach Himmelschlüssel gerochen. Die Frau legt ihr fünf verschiedene Seifen vor. Antonia beugt sich darüber und schnuppert - an einer Seife nach der anderen. Sie weiß es sofort. Ganz sicher: Es ist diese, sagt sie. Während der Ausbildung zur Fürsorgerin hat Antonia wenig Geld. So gerne hätte sie Papas Seife, aber die Seife ist viel zu teuer für sie.
Wir haben fast fünf Stunden gesprochen. Bevor ich aufbreche, frage ich noch: Das mit dem Widerstand - habt ihr das nach dem Krieg herausgefunden? Otto hat es versucht, er hat sich sogar mit dem Kehrer getroffen. Er wollte auch von mir immer wissen, was ich weiß. Ich habe Otto immer gesagt, es soll da nicht herumwühlen. Das was Papa gemacht hat, hätte uns den Kragen kosten können. Besser, man kümmert sich um die Gegenwart, sagt meine Tante. Da gibt es genug zu tun. Die in der Regierung spinnen ja alle. Wer weiß, wo das noch hinführt.
Mein Großvater war also - irgendwie - im Widerstand. War er ein Held? Was würde er auf die Frage sagen, was er getan hat? Was würde er auf die Frage sagen, was zu tun ist? Was muss ich tun, um auch ein Held zu werden? Sollte ich jemals ein Held werden, will ich auch einen Heldentot sterben. Unwillkürlich muss ich über diesen dummen Gedanken lächeln.
ORF/JOSEPH SCHIMMER
Als ich die Auffahrt zur Autobahn nehme, dämmert es bereits. Ich gebe Gas. Am Horizont verschmilzt das Asphaltband mit dem blauen Himmel. Als ich die 140 km/h erreiche, die der Verkehrsminister neuerdings freigegeben hat, sehe ich einen schwarzen SUV vor mir. Er verkleinert sich nicht, er wird immer größer. Scheiße: Wir rasen aufeinander zu. Scheiße, ich bin falsch aufgefahren! Ich steige auf die Bremse, nach wenigen Sekunden halte ich. Auf der Autobahn. Den Aufprall überlebe ich noch. Aber als zwei Tonnen Stahl und Blech meinen Wagen ein paar hundert Meter weit vor sich herschieben, bis er nach rechts ausschert, die Leitplanken rammt, sich aufbäumt, abhebt und mit den Rädern nach oben durch die Luft fliegt ...