Matadouro live

SERGIO CADDAH

Wiener Festwochen

Matadouro - Tänzer als Schlachtvieh

Der brasilianische Choreograf Marcelo Evelin lässt in seiner 2010 entstandenen Produktion "Matadouro" Hochkultur auf eine brutale Realität prallen - Erstaufführung mit Live-Ensemble.

Morgenjournal | 05 06 2019

Politisches Tanztheater aus Brasilien steht dieser Tage am Programm der Wiener Festwochen. Am Wochenende präsentierte die Choreografin Lia Rodrigues ihr Stück "Fúria", "Wut", das die politische Stimmung nach dem Wahlerfolg des nunmehrigen Präsidenten Jair Bolsonaro reflektiert. Und am Mittwoch kommt die Produktion "Matadouro", zu Deutsch: "Schlachthof", ihres Kollegen Marcelo Evelin auf die Bühne des Museumsquartiers - unter Mitwirkung des Wiener Hugo Wolf Quartetts. Ein Stück über den Kampf um menschliche Würde in der Geschichte und Gegenwart Brasiliens.

Schuberts Musik zu beklemmender Szene

Zwei Welten prallen hier aufeinander: Auf der Bühne der Halle G führt das Hugo Wolf Quarett Franz Schuberts Streichquintett in C-Dur auf - doch es ist, als hätte man dieses so bedeutende wie rätselhafte Spätwerk des Komponisten einer brutalen Realität ausgesetzt: Immer wieder überlagern laute Schläge, Trillerpfeifen, Hundegebell und elektronisch erzeugter Lärm die Musik.

"Es geht um dieses Gefühl, zum Schlachthof gebracht zu werden"
Marcelo Evelin

Schließlich gewinnen die Streicher die Oberhand, aber nur, um eine beklemmende Szene zu untermalen: Acht entkleidete Tänzerinnen und Tänzer laufen wie in einer Hetzjagd unaufhörlich um die Bühne. "Matadouro" heißt dieses 2010 entstandene Tanztheater - es ist der letzte Teil einer Trilogie, die auf ein symbolträchtiges Kapitel der brasilianischen Geschichte, den Krieg der republikanischen Armee gegen die Separatisten der nordbrasilianischen Stadt Canudos Ende des 19. Jahrhunderts, Bezug nimmt. Doch der ungleiche Kampf um Würde, der hier dargestellt werde, sei freilich von zeitloser Relevanz, sagt der Choreograf Marcelo Evelin - man müsse nur auf den Umgang mit Flüchtlingen und Minderheiten schauen.

"Wir stecken alle in diesem System. In Brasilien beispielsweise hat mit der neuen Regierung ein sehr rigides, faschistisches Denken Einzug gehalten", sagt Evelin. "Im Stück 'Matadouro' geht es um dieses Gefühl, zum Schlachthof gebracht zu werden - in einer Situation zu stecken, aus der es praktisch kein Entkommen gibt."

Matadouro live

SERGIO CADDAH

Matadouro live

Bolsonaro schaffte Kulturministerium ab

Derart ausgeliefert fühlten sich zurzeit weite Teile der brasilianischen Bevölkerung, so Evelin. Präsident Jair Bolsonaro, der das Land seit 1. Jänner regiert, verkörpere die Antithese zu einer demokratischen, offenen und gerechten Gesellschaft. Schon seinen Wahlkampf hatte Bolsonaro mit rassistischen, frauenfeindlichen und homophoben Äußerungen geschlagen; den Amazonas-Regenwald, dessen Schutz für das globale Klima von entscheidender Bedeutung ist, will er noch stärker wirtschaftlich nutzen. Zuletzt protestierten Zehntausende gegen die drastische Senkung der Bildungsausgaben; und auch Kunstschaffende wie Marcelo Evelin stehen vor einer ungewissen Zukunft.

"An seinem zweiten Arbeitstag ließ Bolsonaro das Kulturministerium schließen", berichtet der Choreograf. "Das ist eine Provokation, ein symbolischer Akt - ein Weg, uns zu sagen: Wir geben euch keinen Raum für individuelle Entfaltung, für Imagination und Entwicklung."

Dabei befindet sich Evelin noch in einer privilegierten Situation: Seit den 1980er Jahren lebt er in Europa, betreibt aber in seiner Heimatstadt Teresina ein Tanzstudio, in dem er alle seine Stücke produziert. Ob und wie lange er weitermachen könne, sei derzeit vollkommen ungewiss, sagt er. Vor diesem Hintergrund entfaltet das Stück "Matadouro", das bei den Wiener Festwochen nun erstmals mit Live-Ensemble aufgeführt wird, wohl eine umso beklemmendere Wirkung.

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