Rettichhelmling

ANDREA MARKART

Ö1 Kunstgeschichten

"Die Abflusswesen" von Mike Markart

"Ich lebe ja in einem großen Haus", sagt Mike Markart, "mit den Bildern von meinem Bruder Tom. Und mit denen von Andrea Markart, seiner Frau. Diese Bilder sind meine Mitbewohner. Ich ordne einige von ihnen an den Wänden immer wieder neu. Die 'Abflusswesen' haben begonnen, ein Eigenleben zu entwickeln. Ich rede hin und wieder mit ihnen. Vor allem mit dem 'Rettichhelmling', der mein besonderer Freund ist". Die von Edith-Ulla Gasser kuratierte Erstveröffentlichungsreihe "Ö1 Kunstgeschichten" widmet sich dem Kunstblick von Autorinnen und Autoren.

Heringsmöwe

ANDREA MARKART

Heringsmöwe

Ich halte die Augen geschlossen. Sehe deshalb aus wie ein Schlafender. Welcher noch immer schwer atmend in eine furchtbare Welt hinein träumt. Ich bin allerdings längst wach, habe aber kein gutes Gefühl, und muss mich erst von dem Traum erholen, den ich hatte. Der mir den Schweiß aus den Poren trieb, ihn hineindrückte in das Leintuch und die Decke. Diese liegt nun schwer auf mir, wie die Gedanken. Ich habe nämlich geträumt, dass eine Frau bei mir eingezogen ist. Marie. Mit ihren seltsamen Tieren, welche aus der unsichtbaren Welt meines Rückens in mein Gesichtsfeld gezischt sind, um im Augenblick meines Erschreckens bereits wieder zu verschwinden.

Das ist eine furchtbare Vorstellung für einen wie mich. Ich halte nämlich jeden Menschen für einen Dieb. Der sich bei mir einschleicht in der Absicht, mich zu bestehlen. Zuerst nimmt diese Person den Raum und die Atemluft in meiner Wohnung. Zimmer um Zimmer stiehlt sie sich. Wagt sich immer weiter vor. Dann stiehlt sie meine Zeit. Sie lenkt mich ab, von meinem eigentlichen Plan. Sie redet in mein Tun hinein, wenn sie selbst nichts zu tun hat. In mein Stehen und Schauen. Aus dem Fenster hinaus auf die Straße hinunter. Bald stiehlt sie meine Wörter. Und meine Ideen. Sie geht hinein in mein Innerstes. Sie horcht mich aus und findet den Weg. Dann hat sie in kurzer Zeit alles zusammengestohlen und von mir ist nichts geblieben. Das ist meine größte Angst.

Mike Markart

ANDREA MARKART

Mike Markart wurde 1961 in Graz geboren, er lebt in der Weststeiermark und in Italien. Schräge Gestalten bevölkern seine Theaterstücke, Romane und Erzählungen mit Titeln wie "Dillingers Fluchtplan" oder "Ich halte mir diesen Brief wie einen Hund", mit deren Hauptfiguren der Autor nach eigener und fremder Einschätzung mehr und mehr verschmilzt. Mit seinem Bruder Tom teilt Mike Markart die Leidenschaft fürs kulinarische Experimentieren, was seinen Niederschlag unter anderem in dem gemeinsamen Buch "Die geheime Osteria" fand.

Entsprechend aufgebracht erwache ich aus dem Traum, in welchem ich zugelassen habe, dass sich so jemand bei mir einschleicht. Deshalb brauche ich länger als sonst, um mich von einem Traum soweit zu erholen, dass ich überhaupt aus dem Bett steigen kann, um in der Küche die Kaffeemaschine einzuschalten. Ich denke also mit geschlossenen Augen über den Traum nach und bin froh, nach dem ersten Moment des Aufschreckens, in welchem ich verwirrt gewesen bin und Traum und Wirklichkeit nicht auseinanderhalten habe können, zu begreifen, dass ich nur geträumt habe. Das beruhigt mich. Und ich atme noch einmal und endgültig tief durch.

Nun kann ich wieder klar denken und ich sage mir, ich hätte es ohnehin niemals zugelassen, dass so etwas passiert. Dass jemand mit seinen Habseligkeiten ins Haus kommt, um zu bleiben. Ich finde in diesem Moment des Aufwachens die Tatsache, dass ich so etwas träume fast ein wenig absurd. Ich schüttle den Kopf und öffne nun die Augen.

Die Kaffeemaschine braucht eine halbe Stunde, um ihre ideale Temperatur zu erreichen. Der einzige Spiegel, den ich besitze, hängt im Badezimmer. Natürlich über dem Waschbecken. Aber ich vermeide es, so gut es geht, in den Spiegel zu sehen. Ich möchte nämlich vergessen, wie ich aussehe.

Ich lasse die Tür ins Badezimmer immer offen, um die Feuchtigkeit aus dem kleinen, fensterlosen Raum zu bringen. Deshalb wundere ich mich, dass die Tür geschlossen ist. Ich erreiche sie mit wenigen Schritten und drücke die Schnalle nach unten. Die Tür ist jedoch abgeschlossen.

Und bevor mir ein erster, mit Bedenken angereicherter Gedanke überhaupt durch den Kopf jagen kann, um mich in Aufruhr zu versetzen, gibt mir eine Frauenstimme Bescheid, dass sie im Badezimmer sei, aber nicht mehr lange brauchen würde. Sofort blättere ich meinen ganzen Traum durch. Hastig. Um einigermaßen einschätzen zu können, was auf mich zukommt, wenn sich die Tür öffnet und die Frau herauskommt. Denn es gibt keine beruhigende Erklärung, die sich zwischen dem Traum und der Badezimmersituation in diesem Moment ansiedeln lässt. Dabei bin ich sonst erfinderisch, wenn es darum geht, mich in ausweglosen Momenten auch wieder zu beruhigen, indem ich daran glaube, dass alles einen angenehmen und normalen Verlauf nehmen wird. Dabei ist glauben, bei Tageslicht entspannt betrachtet, nur das Hoffen ins Vergebliche hinein.
Das weiß ich natürlich, aber in Notsituationen sehe ich einfach darüber hinweg.

Daniel Doujenis

PRIVAT

Daniel Doujenis wurde in Wien geboren, schloß das Gymnasium in Athen ab und studierte an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Graz. Engagements führten ihn an die Bühnen Frankfurt, an das Stadttheater Hildesheim, an die Städtischen Bühnen Augsburg und an das Theater an der Ruhr in Mülheim. Von 2000 bis 2008 war Doujenis am Schauspielhaus Graz engagiert, seit 2008 ist er freiberuflicher Schauspieler, Regisseur und Bühnenautor. Außerdem lehrt er als Senior Lecturer für Dramatischen Unterricht und Rollengestaltung an der Kunstuniversität Graz und ist in zahlreichen Radioproduktionen zu hören.

Das alles würde mir jetzt ohnehin nicht helfen. Es ist zu spät, um mit Hoffnungen zu beginnen. Es gibt nämlich nur eine furchtbare Erkenntnis, die sich mir und meinem Leben jetzt in den Weg stellt: Jene, dass die bei mir eingezogene Marie kein schrecklicher Traum gewesen ist, sondern eine unerklärliche, aber offensichtliche Tatsache darstellt, mit der ich nun, wie lange auch immer, leben muss. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Marie aus dem Badezimmer kommt, ihre Sachen nimmt, die an der Garderobe hängen, ihre zwei Koffer, die am Ende des Ganges stehen, und wieder zur Tür geht, um mich zum Abschied freundschaftlich zu küssen und zu verschwinden.

Wie konnte das alles passieren? Natürlich ist Marie keine Unbekannte. Ich habe auch keine Probleme damit, sie zu berühren. Und auch nicht damit, mich von ihr berühren zu lassen. Aber dafür braucht sie weder mehrere Jacken, die sie auf meine Garderobe hängt, noch zwei große Koffer.

Irgendetwas muss gestern Abend aber geschehen sein, an mir und meiner diesbezüglichen Skepsis vorbei. In diesem Moment sperrt sie die Tür auf und tritt heraus auf den Gang. Sie weiß im Gegensatz zu mir, was gestern vorgefallen ist, denn sie freut sich, mich zu sehen und sie macht überhaupt einen sehr ausgeglichenen, gut gelaunten Eindruck. Sie geht an mir vorbei in Richtung Küche und von mir abgewandt sagt sie etwas über meine Kaffeemaschine. Meine Kaffeemaschine bekommt häufig Komplimente. Bald sitzen wir uns am Wohnzimmertisch gegenüber.

Ich höre, dass der Wasserhahn in der Küche tropft und ich nehme mir vor, mich später darum zu kümmern. Aber nicht zu spät. Gleich nach dem Kaffee und einigen gewechselten Worten mit Marie.

Ich muss mir jetzt ein Bild davon machen, warum Marie eigentlich hier ist und wie lange sie gedenkt zu bleiben. Aber ich darf das Problem mit dem Wasserhahn nicht aus den Augen verlieren, sondern muss es besonders dringend beheben. Wahrscheinlich wird das Werkzeug, das ich im Haus habe ausreichen, um das zu reparieren. Falls nicht, muss ich etwas kaufen, mit dem ich das Geräusch des tropfenden Wassers abstellen kann. Denn das Tropfen ertrage ich nicht lange. Auf dem Kalender sehe ich, dass heute Dienstag ist. Die Geschäfte haben also offen. Das beruhigt mich. Marie sagt mir, dass sie später ein paar Termine hat, dass sie gegen Mittag aber zurück sein würde, um etwas für uns zu kochen.Die Lage ist also ernst. Marie sieht sich nicht als einmaligen Schlafgast, der nach einer mir nicht erinnerbaren Nacht das Haus in Richtung ihrer eigenen Wohnung am anderen Ende der Stadt verlässt.

Paxillus Involutus, Kahler Krempling

Paxillus Involutus, Kahler Krempling (Bildausschnitt)

ANDREA MARKART

Ich ergebe mich vorläufig der Situation. Marie aus dem Haus zu werfen, würde mir zwar meinen Raum zurückgeben, aber ich hätte kein gutes Gefühl dabei, sie so zu verstören.

Ich stehe, nachdem sie die Tür ins Schloss gezogen hat, auf, räume die Kaffeetassen in den Geschirrspüler und hole meine Werkzeugkiste, in welcher alles, was für kleinere Arbeiten, die ich mir zutrauen kann, untergebracht ist. Diese stelle ich auf die Metallablage neben dem Spülbecken. Und ich warte auf den nächsten Tropfen.
Allerdings vergeblich. Ich bin zufrieden, dass der Wasserhahn sich selbst repariert, und mir dadurch eine nicht abschätzbare Menge an Ärger erspart hat, und ich gehe nun ins Bad. Putze mir die Zähne, ohne in den Spiegel zu schauen und wasche mir das Gesicht. Zupfe meine Haare zurecht. Das alles schaffe ich, ohne zu sehen, wie ich aussehe.
Danach widme ich mich im Arbeitszimmer jenen Projekten, welche mich seit Tagen beschäftigen. Ich kann mich gut hinein vertiefen in erfundene Welten, dementsprechend verliere ich mich bald ganz und gar in Handlungen, welche nichts mit meinem Leben zu tun haben. Die Zeit vergeht schnell und ich kehre erst wieder zurück, als ich höre, dass ein Schlüssel ins Schloss der Haustür gesteckt und darin umgedreht wird.

Die Tür wird geräuschvoll aufgestoßen und schlägt an die Wand. Ich gehe aus meinem Zimmer und sehe, wie Marie mit Einkäufen zurückkommt, welche sie in zwei Taschen gepackt hat. Sie hat unterschätzt, wie leicht die schwere Tür ausschwingt, wenn man sie nach dem Aufsperren nur ganz sanft anstößt und nicht zurückhält. Woher soll sie das auch wissen? Keine andere Tür, die ich kenne, verhält sich so. Damit hat sie also nicht rechnen können.

Marie zeigt mir stolz die Einkäufe und sagt mir, was sie kochen möchte. Ich habe nichts gegen das Essen einzuwenden. Ich freue mich darauf, denn ich weiß, dass sie gut kochen kann.

Sie trägt die Einkäufe an mir vorbei in die Küche und ich folge ihr. Ich höre sofort, dass der Wasserhahn jetzt wieder tropft. Laut in das Spülbecken aus Metall trommelt. Mit einzelnen, aber harten Schlägen.

Ich gehe los, um die Kiste mit dem Werkzeug wieder zu holen. Ich möchte mich sofort daran machen, das Wasserproblem zu lösen. Als ich zurückkomme, hat Marie allerdings einiges vom Gemüse in das Spülbecken gelegt. Ich gehe ganz nah an sie heran und will sie sanft zur Seite drücken, aber ihr vorwurfsvoller Blick hält mich ab. Ich nehme die Kiste also wieder und ziehe mich zurück. Abermals in mein Arbeitszimmer. Ich kann nicht in der Küche bleiben, wenn Marie mich davon abhält, etwas gegen den tropfenden Wasserhahn zu unternehmen.

In meinem Zimmer setze ich mich allerdings nur hin. An meine Projekte kann ich jetzt nicht mehr denken. Ich weiß ja, dass der Wasserhahn tropft. Und dass Marie mir die Räume leeratmet und anfüllt mit Ideen, die nur mit ihrem Leben zu tun haben. Die mir aber den Blick auf mein eigenes Leben verstellen.

Ich denke, weil ich sonst nichts zu tun imstande bin aufgrund der besonderen Situation, abermals und vertieft darüber nach, wie es passieren konnte, dass Marie sich aufgefordert gefühlt hat, bei mir einzuziehen. Sie hat eine hübsche Wohnung. Es gibt also diesbezüglich keinen Grund. Und ich bin keiner, der anfängt unüberlegt zu plappern, nur weil mir eine Frau gefällt oder ich ein paar Gläser Wein getrunken habe. Mir fehlen aber ein paar Stunden des gestrigen Abends, und sosehr ich auch in mich hineindenke, ich finde keine Antwort innerhalb meiner abgedunkelten und verwirrten Gedanken. Die einzige Person, welche mir eine Antwort geben könnte, steht in meiner Küche und kocht.
Für sich und für mich. Sie kann ich aber nicht fragen.

Wieso eigentlich nicht? Auch darauf finde ich keine Antwort, die mich dazu bringen würde, zufrieden zu sein mit dem Resultat meines Denkens in meinem Zimmer. Während Marie in meiner Küche kocht. Der tropfende Wasserhahn scheint sie nicht zu stören. Sonst wäre sie längst in mein Zimmer gekommen, um mich dazu aufzufordern, etwas zu unternehmen.

Es dauert eine Zeitlang, dann kriechen animierende Gerüche unter meiner Tür ins Zimmer. Sie treffen genau mein aufkommendes Hungergefühl und ziehen Marie hinter sich her, denn schon einige Augenblicke später klopft sie und öffnet die Tür, ohne auf eine Reaktion von mir zu warten. Allerdings drückt sie die Tür nur ganz vorsichtig und dementsprechend langsam in den Raum hinein.

Das Essen ist fertig, sagt sie, dreht sich um und geht zurück. Sie hat den Tisch im Wohnzimmer gedeckt. Nicht besonders aufwendig. Aber hübsch. Und zweckmäßig. Wir sitzen uns dort gegenüber. Bevor ich zu essen beginne, klärt Marie mich über das Essen auf, das sie gekocht und serviert hat. Es ist ein orientalisches Gericht mit viel Gemüse, Huhn und einer Vielzahl von Gewürzen. Das Essen ist bunt und duftet sehr stark. Ich bin aber weder ein geübter Koch noch ein allzu aufmerksamer Esser, welcher die Bedeutung des Essens ins Sinnlose hinauf erhöht. Marie zählt mir jede einzelne der Zutaten auf, ich bin aber in Gedanken. An den Wasserhahn, welcher seine Tropfen in nun merklich kürzeren Abständen in das Spülbecken aus Metall donnert. Sofort aufzuspringen, um jetzt, wo Marie mit Essen beschäftigt ist, die kleine Reparatur durchzuführen, ist unmöglich. Das verstehe ich. Und ich wiederhole den Gedanken ein paar Mal in mich hinein, um mich nachhaltig zu beruhigen.

Das Essen schmeckt gut. Dass Marie die ganze Zeit redet, stört mich ein wenig, denn ich esse an den meisten Tagen allein. Und mit mir selbst rede ich kaum einmal. Ich sage aber nichts in Maries Reden hinein. Reagiere nicht einmal auf jene Sätze, welche Fragen an mich richten. Nach einiger Zeit hört sie von selbst auf, weitere Wörter zu sprechen.

Menschen neigen dazu, sich von ihrer Umgebung absorbieren zu lassen. Der mich umgebende Raum ist verschwiegen. Und leise. Atmet oft nur ruhig. Und lebt das Vergehen der Zeit. Umso störender ist das Tropfen des Wasserhahns, welches nicht nur den Abstand zwischen einem Tropfen und dem nächsten verringert, sondern auch immer lauter wird. Ich esse einfach, und konzentriere mich darauf, nicht wahnsinnig zu werden und aufzuspringen. Ich explodiere beinahe. Da hören die aus der Küche kommenden Geräusche von einem Tropfen zum nächsten einfach auf. Ich bin irritiert. Noch mehr, als durch das Geräusch des Tropfens. Marie isst einfach weiter. Sie scheint das Geräusch nicht gestört zu haben. Vielleicht hat sie es aber auch gar nicht gehört.

Ich sehe an den Menschen immer wieder, dass sie in speziellen Situationen ganz anders reagieren als ich. Dieses Wissen ist allerdings nicht auf mich anwendbar. Ich nehme die Tatsache nur hin.

Ich esse jetzt hastiger als Marie. Obwohl ich normalerweise ziemlich langsam esse, mein Esstempo häufig der Geschwindigkeit meiner Gedanken anpasse. Und wenn ich mit mir allein bin, in meiner geübten Umgebung, habe ich oft keine Eile. Auch beim Denken nicht.

Bald bin ich mit dem Essen fertig. Ich stehe auf, ohne Marie anzusehen, denn ich habe mich entschieden, einfach meinem Plan zu folgen. Ich muss genau jetzt herausfinden, was in der Küche vor sich geht. Ich hole die Kiste mit dem Werkzeug und stelle sie neben der Spüle ab. Überlege, womit ich meine Überprüfung der Anlage beginnen soll. In diesem Moment flitzt ein kleines, fischartiges Wesen durch die Öffnung des Abflusses, zieht den Faden eines Teebeutels hinter sich her und ist einen halben Atemzug später bereits wieder im Dunkeln des Abflusssystems verschwunden.

Ich zweifle nicht an dem, was ich gesehen habe. Denn meistens stellt sich heraus, dass gerade das Unmögliche genau das ist, was am wahrscheinlichsten passiert. Das Naheliegende, das Vernünftige tritt dagegen selten ein. Man erwartet es und wird enttäuscht.

Aber um mich zu fassen, gehe ich die wenigen Schritte zur Tür, welche ins Wohnzimmer führt, und sehe Marie, die in aller Ruhe weiter isst, ein paar Sekunden lang an. Sie erwidert meinen Blick und ich sehe etwas Fragendes in ihren Augen. Aber ich drehe mich um und gehe in die Küche zurück. Ich gehe ganz nah an den Abfluss heran. Ich sehe kleine Augen, in welchen ich lese, dass sie ängstlich herausschauen in diese fremde, helle Welt. Aber unbedingt heraus wollen ins Große. Ins Bunte.

Und schon flirrt eines dieser Wesen wirklich heraus, dreht sich einige Male vor meinen Augen. Baut mittels eines kleinen Propellers Geschwindigkeit auf, und steuert mit seinen durchsichtigen Flügeln einen Salto. Und noch einen. Das ermutigt weitere, sich heraufzuwagen. Eines stößt gegen das Metall des Wasserhahns, dreht rasch ab und hält vor meinen erstaunten Augen, um mir zu zeigen: Mir kann nichts geschehen. Es trägt ein winziges Teesieb über seinem empfindlichen Mündchen. Jetzt öffnet sich das System des Abflusses und es strömt nur so. Hunderte zuerst, dann tausende Wesen füllen die Küche. In aufregenden Verkleidungen und mit vielerlei Talenten ausgestattet, fliegen sie heraus, um mir zu zeigen, was sie können. Sie führen ihre Kunststücke vor mir auf. Sind winzig klein und mutig. Zu allem bereit. Und ich bin es auch. Als es zu regnen beginnt, wohnt Marie bereits nicht mehr in meinen Gedanken. Vielleicht sitzt sie noch im Wohnzimmer und ist mit ihrem Essen beschäftigt. Anscheinend bemerkt sie nichts von dem, was in der Küche passiert. Der Regen wird heftiger, viel heftiger, aber die kleinen Wesen sind geschickt. Es hat den Anschein, als könnten sie den wilden Tropfen mit flinken Bewegungen ausweichen. Sie sind wie Funken vor meinen Augen. Sie sprühen nur so hinein in meine Welt. Und ich spüre: Ich flattere. Vergesse mich selbst. Und bin einer von ihnen.

Marie ist nicht mehr zu sehen, als wir mit dem Regen, der immer heftiger wird, weiterziehen. Wir peitschen hinein ins Wohnzimmer, regnen an gegen die Bücher, das Wasser rinnt an ihnen herunter, um in die Ritzen des Parkettbodens zu kriechen. Unser Regen flutet Zimmer um Zimmer. Als Orkan suchen die Abflusswesen und ich das Freie. Drücken gegen die Tür, bis sie bricht. Dann sind wir draußen. Endlich. Und nicht mehr zu halten.

Service

Besichtigungen der Bilder von Andrea Markart können mit dem Autor vereinbart werden.

Text: Ilse Amenitsch

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