Scherbenbild "The sea" von Julian Schnabel

AP/BERND KAMMERER

Ö1 Kunstgeschichten

"Scherben" von Irene Prugger

Muss man ein Kunstkritiker, Sammler oder Galerist sein, um ein Werk der bildenden Kunst beurteilen zu können? Und ist ein abstraktes Werk leichter oder schwerer verständlich als ein gegenständliches? Die Tiroler Autorin Irene Prugger findet in ihrer Erzählung eine interessante Perspektive, indem sie eine weibliche Reinigungskraft zur abstrakten Kunst sprechen lässt. Die Ö1 Erstveröffentlichungsreihe "Kunstgeschichten" widmet sich dem Kunstblick von Autorinnen und Autoren. Redaktion: Martin Sailer und Edith-Ulla Gasser.

Es tut mir leid, ich weiß auch nicht, wie es passieren konnte. Ein Moment der Unachtsamkeit. Jedenfalls sah ich das Bild ganz hinten im Foyer, ein Bild, das mir bekannt vorkam und das ich schon lange wieder einmal sehen wollte. Ich steuerte darauf zu, den Staubsauger noch in der Hand, ein paar Schritte, dann war es auch schon geschehen, das Kabel hatte sich um das fragile Fundament gewickelt und ich hörte es hinter mir rumpeln, der Turm war in sich zusammengestürzt. Natürlich ist mir bewusst, dass er ein Kunstwerk darstellen soll, dieser Stapel aus leeren, unbeschrifteten Schachteln, aus Umzugsboxen, Geschenkverpackungen und Eierkartons. Aber 20.000, das ist nicht möglich, das schockiert mich, woher soll ich 20.000 Euro nehmen? So hoch kann der Schaden nicht sein: keine Sprünge, keine Scherben, möglicherweise ein paar Beulen im Karton. Man stapelt alles wieder aufeinander und das Werk schaut aus wie vorher. Oder zumindest fast. Der Hausmeister, der gemeinsam mit dem Künstler an der Aufstellung beteiligt war, hat das in einer halben Stunde erledigt. Vermutlich würde nicht einmal dem Künstler selbst die Veränderung auffallen.

Irene Prugger

DEFNER

Irene Prugger, geboren 1959 in Hall in Tirol, lebt als Autorin und Journalistin in Mils. Die ehemalige Mitherausgeberin der Innsbrucker Literaturzeitschrift INN schreibt Romane, Kurzgeschichten, Erzählungen und Hörspiele.

Dem Hausmeister könnte man für die Arbeit eine kleine Entschädigung anbieten, weil die Reparatur von Kunst nicht zu seinem Aufgabengebiet gehört. Diese Entschädigung bin ich bereit zu übernehmen, aber 20.000 Kröten! Sind Sie denn nicht versichert für eventuelle Schäden? Sie müssen doch versichert sein, wenn Sie sich derart hochpreisige – ich sage ausdrücklich nicht hochwertige – Kunst ins Haus holen und sie im Firmengebäude ausstellen?! Vielleicht ist das ja überhaupt nur ein großer Bluff. Womöglich waren in diesen Pappschachteln richtige Kunstwerke verpackt. Damit sie während der Ausstellung nicht sinnlos herumstehen oder gelagert werden müssen, hat ein Künstler namens Schlaumeier diesen Turm gebastelt und Sie beide verkaufen das Publikum nun für dumm. Aber nein, Sie sind ja selber auf diesen Schlaumeier und seine Pappendeckelkunst hereingefallen.

Dass es dabei nicht um den Materialwert geht, ist mir klar, Sie müssen mich nicht für eine Banausin halten, nur weil ich hier im Arbeitsschurz vor Ihnen stehe. Und mir ist durchaus bewusst, dass der Künstler sich etwas dabei gedacht hat. Es ist auch gar nicht schwierig zu erraten, was. Er wollte auf die Auswüchse unserer gedankenlosen Verpackungs- und Bestellkultur hinweisen, Schachtelberge, die durch den Internethandel zum Himmel wachsen, das traurige, verantwortungslose Amazonien des Westens. Kann schon sein, dass Menschen, die noch immer nicht kapiert haben, in welcher Zeit wir leben, dadurch ein Aha-Moment beschert wird. Und es mag auch Kunstkenner geben, die diesen fantasielosen Schachtelhaufen für einen gloriosen Ausdruck der Konsumkritik halten, aber verändert sich die bedeutungsvolle Aussage, bloß weil die Schachteln und Kartons ein wenig anders drapiert sind?

Sie haben Recht, ich bin keine Kunstexpertin. Aber vielleicht unterschätzen Sie mich, so wie Sie vermutlich in der hierarchischen Struktur Ihres Hauses prinzipiell dazu neigen, die unteren Schichten, oder sagen wir es politisch korrekt: die weniger einkommensstarken Schichten abzuklassifizieren. Aber auch wir haben ein gesundes Urteilsvermögen und unsere Interessen sind breit gestreut. Ich zum Beispiel interessiere mich sehr für Kunst und mir gefällt sie. Natürlich gefällt mir nicht alles und ich verstehe auch nicht alles, was mir, mit dem Kunststempel versehen, vorgesetzt wird. Mit zu einfachen Vereinfachungen habe ich meine Probleme. Ich bin auch skeptisch, wenn sich Kunst zu kryptisch gibt.

Dieses Schachtelungetüm mitten im Foyer, das ich ohne Absicht gefällt habe, ist nicht kryptisch, sondern banal. Aber ich wollte ihm eine Chance geben und sah darin zuerst einen Baum. Einem Baum aus Schachteln hätte ich eher etwas abgewinnen können. Da gäbe es durchaus sinnvolle Verbindungen: Karton – Holz – Baum – leere Konsumwelt – abgeholzte, braune Wälder. Aber dann sagte sogar der Künstler bei der Vernissage, es sei einfach nur ein hoher Stapel, und er verweigere sich bewusst dem Konkretisieren und Psychologisieren und Dramatisieren. Dann sagte er noch etwas Pathetisches, das ich vergessen habe, das aber nicht zur Erklärung beitrug und das nur noch deutlicher machte, dass dieser hohe Stapel genau das ist, was er zeigt, nämlich Hochstapelei. Eigentlich ist es eine ziemliche Anmaßung, so etwas als Kunst zu verkaufen, aber ich will Ihnen nicht zu nahe treten, Sie haben ja den Künstler ausgewählt und halten große Stücke auf ihn. Nun ja, wenn man 20.000 für dieses Werk hinblättert, muss man das tun, sonst ist einem nicht zu helfen. Wenn ich das bezahlen muss, ist mir auch nicht zu helfen. Oder ich kaufe das Kunstwerk, beziehungsweise seine Bestandteile, und verkaufe es dann weiter, vielleicht finde ich jemanden, der mir fünfundzwanzig dafür gibt. Haben Sie Interesse? Ins Wohnzimmer kann ich es mir jedenfalls nicht stellen, dazu ist es bei mir zuhause zu klein, es stünde mir beim Staubsaugen immer im Weg, außerdem käme ich mir vor wie im Hinterzimmer einer Postzentrale oder in der Nachbarschaft eines übervollen Containers.

Ja, ich weiß, was Sie denken, dass sich darin das Kunstverständnis der kleinen Frau zeigt, das immer ein Kunstunverständnis bleiben wird, auch wenn sie glaubt, ein paar wichtige Zusammenhänge erkannt zu haben oder sich einbildet, beim Thema mitreden zu können. Einer Ihrer Angestellten, mit dem ich mich manchmal über die hier ausgestellten Werke unterhalte, behauptet, ich hätte einen Hang zum Kitsch mit meiner Vorliebe fürs Gegenständliche. Stimmt. Ich interpretiere gerne, übersetze das Abstrakte immer gleich in etwas Konkretes, weil ich die Aussage dahinter entdecken will. Kunst muss doch auch einen Sinn haben, einen wahrnehmbaren Sinn. Danach zu suchen ist kein Vergehen, noch dazu, weil Schönheit als einziger Sinn in der Kunst mittlerweile nicht mehr so angesehen ist, wie man unter anderem an dieser von Ihnen zusammengestellten Ausstellung eindrucksvoll sieht.

Ich mag es, wenn die Kunst mich etwas entdecken lässt. In einer abstrakten Komposition von Wassily Kandinsky entdecke ich Landschaften mit Himmelskörpern, Bergen, Wäldern, Meeren, Schiffen, Häfen und Bahnhöfen. Ihr Mitarbeiter sagt, es sind zuallererst einmal geometrische Formen, Wellenlinien, Punkte und Striche. Darin liegt die Kunst der Kunstbetrachtung, nicht alles sofort zu übersetzen, sondern die reine Komposition auf sich wirken zu lassen. Abstraktion sei eine Kulturleistung und man müsse das Abstrakte aushalten lernen, hat er mir erklärt. Ich halte es offenbar nicht aus. Aber es gefällt mir, in der Verfremdung Dinge zu entdecken, die ich kenne, einen Teil meiner Welt.

Jetzt staunen Sie, dass ich Kandinsky kenne und ihn nicht für einen Süßwarenhändler halte. Ja, auch wir kleinen Menschen erfahren manchmal große Offenbarungen. Ich möchte Ihnen gern etwas erzählen. Mit meiner Freundin Luise, die auch nichts von Kunst versteht, besuchte ich vor ein paar Jahren eine Ausstellung. Wir kamen in die Abteilung moderne Kunst, ein Bild überfiel uns mit seiner Präsenz, ein großflächiges Werk, das uns aufforderte, innezuhalten. Wir standen unmittelbar davor und waren verwundert über die Technik. "Aha", sagte Luise. "Mhm", sagte ich, "interessant." – "Interessant? Aufgeklebte Scherben und Farbe drübergemalt?", fragte Luise. In ihrer Stimme zitterte Empörung. "Das kann ich auch. Das kann jeder. Sogar meine Kinder können das!", sagte Luise. - "Lauter kleine Genies in deiner Volksschulklasse?", fragte ich, denn ich spürte gleich, dass ich hier vor etwas Großem stand, und zwar nicht nur, was die Maße des Bildes betraf. "Eher Kinderkram hier an der Wand", sagte Luise. Sie las den Namen des Künstlers: "Julian Schnabel. Ist das der, mit dem Heidi Klum unterwegs ist?" - "Ich glaube, sie ist mit seinem Sohn unterwegs", sagte ich.
Wir steuerten den nächsten Ausstellungsraum an, aber vor der Schwelle drehte ich mich noch einmal um. Und nun, aus der Entfernung, sah ich es erst: Auf dem Bild aus zerbrochenen Scherben saß eine Familie um einen Tisch. Eine zerbrochene Familie, die nur so tat, als sei sie noch intakt? Das Bild berührte mich nicht nur, es machte mich fassungslos. Ich hätte nicht sagen können, warum, denn es war kalt. Ein kaltes Bild, das mir Gänsehaut verursachte. Ich kannte diese Familie. Ich kannte sie vor und nach dem Scherbengericht, wenn alles weiterging, als ob nichts gewesen wäre. Ich wollte Luise darauf aufmerksam machen, was sie hier versäumte, aber sie war bereits weitergeeilt, um ihre vorschnellen Urteile zu fällen.

Ithaca, 1983 von Julian Schnabel

Ithaca, 1983

METMUSEUM

Im Raum hing noch ein Bild vom selben Künstler, auf hölzernem Untergrund, ebenfalls eine Komposition aus aufgeklebten Scherben und Malerei und vielleicht sogar aus mehreren Bildern zusammengesetzt, das weiß ich nicht mehr so genau. Auch dieses Bild wurde erst sichtbar aus der Distanz und zeigte ein älteres Paar, gefasst und still, vermutlich ein Porträt nach realen Vorbildern gefertigt, die Frau im Hintergrund auf einem Stuhl sitzend, der Mann im Vordergrund, ebenfalls sitzend, die Hände und einen Hut in den Schoß gelegt und von der Frau abgewandt. Die schweigende Szene spielte offenbar in einem Garten, ich glaubte Bäume und Wurzeln zu erkennen, der Mann schien aus einer großen Wurzel herauszuwachsen, während die Frau auf einem Stuhl saß. Etwas trennte die beiden Menschen oder lag zwischen ihnen, etwas Mächtiges, das nicht ins friedliche Bild passte, insofern ein Scherbenbild überhaupt eine friedliche Anmutung haben kann - ein Klotz, ein Ast, ein Baum, ein Gegenstand, ich kann mich nicht mehr erinnern, ich kann mich nur noch erinnern, was das Bild in mir auslöste: Erleichterung, dass die hier zur Schau gestellten Machtverhältnisse nur scheinbare waren. Die kleine, aufrecht sitzende Frau im Hintergrund konnte dem Mann den Rücken stärken oder ihr eigenes Leben leben, sie hatte Urteilskraft und Entscheidungsfähigkeit und sie war flexibel auf ihrem Stuhl. Sie konnte jederzeit aufstehen und gehen, aber sie schien darauf zu warten, dass der Mann, dieser in seinen Konventionen und Gewohnheiten so tief verwurzelte und womöglich auch gefangene Mann, sich umdrehen und zu ihr sprechen würde. Die beiden gehörten zusammen, waren vermutlich nicht einmal schlecht aufeinander zu sprechen, aber etwas zwischen ihnen war zerbrochen und lag in Scherben, auf stille Art, denn sie waren gewiss zu vornehm, um bei einem Streit mit Geschirr zu werfen. Die Beschreibung beim Bild war sachlich und lieferte keine Interpretation, oder zumindest keine, die ich verstand, aber diese nüchternen zwei Zeilen habe ich mir gemerkt: Ithaka. Date 1983. Medium: Oil and broken dinnerware on wood. Leihgabe "The Metropolitan Museum of Art".

Ich habe mir das gemerkt, weil in diesen Momenten, als sich die Scherben vor meinen Augen zu Bildern zusammensetzten, auch etwas in mir etwas zerbrach oder zersprang, aber auf eine befreiende Art, eine mein Denken umgebende, zähe Hülle hatte plötzlich Risse bekommen. Mir war, als hätte ich etwas Wichtiges verstanden, über die Kunst, über das Leben. Auch über die Künstler, die sich mühten und darum rangen, immer neue Ausdrucksformen zu finden. Ich hatte ihre Werke oft viel zu schnell als nichtssagend abgetan. Diese Bilder waren nicht mehr neu, der Kunstmarkt hatte sie vermutlich längst einer Kategorie, einem Schaffenszeitraum, einer Periode zugewiesen und schickte sie nun durch kleine Provinzstädte auf die Reise. Von der einstmaligen Sensation waren jetzt vielleicht auch nur mehr Scherben übrig und die Bedeutung der Bilder wurde hauptsächlich von den hohen Handelspreisen zusammengehalten. Ich hatte davon nichts mitbekommen und kaum etwas von diesem Amerikaner Schnabel gehört, außer von seinem Sohn, der damals tatsächlich mit Heidi Klum liiert war. Diese Klatschgeschichten haben mich nie interessiert, aber ich wollte nun zum ersten Mal mehr über einen Künstler wissen.

Sophie Wendt

WENDT

Sophie Wendt wurde in Kiel geboren, sie wuchs in Rosenheim und Innsbruck auf und studierte am Max Reinhardt Seminar in Wien. Nach Stationen in Stuttgart, in Bregenz oder am Münchner Volkstheater arbeitet Sophie Wendt nun als freie Schauspielerin.

"Ein vom Kunstmarkt hochgespülter, überschätzter Shootingstar", analysierte ein selbsternannter Experte, den wir anschließend in der Kantine trafen. "Man könnte sagen beeinflusst, man könnte aber auch sagen abkopiert von Gaudis Mosaiken." – "Sag ich´s doch, sagte Luise. "Überschätzt. Wir waren in einer Ausstellung für überschätzte Kunst." – "Natürlich, auch die Anklänge an Giotto sind nicht zu übersehen", fügte der Experte hinzu.

"Giotto", sagte Luise sinnend und kramte in ihrer Tasche. "Ich hätte ein Raffaelo anzubieten, wenn Sie möchten?" - "Gern, vielen Dank", sagte der Experte. "Ist das mit Nuss in der Mitte? Besser als ein Stück von Andy Warhols Honeycomb Yellow Cake!" Der Experte lächelte Luise an. Sie lächelte zurück. Zwei, die sich verstanden. "Food is my Great Extravagance, sagte Andy Warhol", sagte der Experte. Und Luise, inspiriert von so viel Kunstverständnis erzählte: "In meiner Küche hängt ein Stillleben eines niederländischen Künstlers. Gurke, Zwiebel, Tomaten. Ein Druck natürlich. Einen Echten kann ich mir nicht leisten." Worauf der Experte zufrieden sinnierte: "Aber niemand hat Kartoffeln so schön ins Bild gesetzt wie Van Gogh und die de Heems sind mit ihrer künstlerischen Gemischtwarenhandlung die wahren Fachleute für Obst und Gemüse!" Ich hielt mich aus dem Gespräch heraus, nahm mir aber vor, mich mit dem Thema Kunst auseinanderzusetzen, um nicht wegen dem ganzen Nichtwissen in der Beurteilung von Fachidioten, tatsächlichen Experten oder Dummköpfen abhängig zu sein.
"Sag mal, Gaudi, ist das nicht ein Modeschöpfer?", fragte Luise mich hinterher. "Möglich", sagte ich, obwohl ich es in diesem Fall tatsächlich besser wusste und setzte hinzu: "Hast du die Bilder nicht gesehen?" – "Welche Bilder?" fragte Luise. "Die Scherben sind doch richtige Bilder gewesen. Das war nicht nur zerbrochenes Geschirr. Man musste nur ein paar Schritte zurücktreten, um die Bilder zu sehen!"
"Ach ja?", sagte Luise und meinte, sie hätte wohl trotzdem nicht viel versäumt.

Nach diesem Erlebnis fing ich an, mich in die Kunst einzulesen, ich wollte mich auch dem Abstrakten nicht mehr verschließen. Ich hatte es vielleicht einfach nur nicht richtig verstanden. Ich wollte meine Verständnisscherben zu neuen Erkenntnissen zusammensetzen und ein wenig ist mir das auch gelungen. Früher glaubte ich zum Beispiel allen Ernstes, eine abstrakte Arbeitsweise würde hauptsächlich in Bequemlichkeit begründet liegen. Wozu immer einen Baum samt Rinde, Ästen und Blättern zeichnen, wenn ein paar gekonnte Striche ihn ebenso symbolisieren können? Dann las ich in einem Buch, dass die abstrakte Kunst etwa zeitgleich mit der Erfindung der Fotografie ihren Durchbruch fand. Das ist ein interessanter Ansatz, denn damit liegt das Motiv auf der Hand: Sahen die Künstler es bis dahin als ihre Aufgabe an, so naturgetreu wie möglich alles bildlich wiederzugeben, die Natur, die Menschen, Pflanzen und Tiere, die Landschaft, die Häuser, so waren sie durch die Möglichkeit der Fotografie von dieser Aufgabe befreit. Ja, ich denke, das muss wirklich eine Befreiung gewesen sein. Manche haben sich wohl noch an diese Aufgabe geklammert, aber die anderen brachen zu neuen Ufern und Kunstwelten auf. Und man merkt ihren Bildern diese Befreiung an.

Ein wenig klüger geworden, gestehe ich den Künstlerinnen und Künstlern nun auch Motive wie Neugier, Grenzüberschreitung, Weiterentwicklung, das bewusste Brechen von Regeln, das Verändern von Seh- und Denkgewohnheiten zu. Zwar halte ich ein schwarzes Quadrat auf schwarzem Grund noch immer eher für einen Ausdruck schwarzen Humors als für den konsequenten Gipfelpunkt einer künstlerischen These, aber heute ist mir klar, dass man nur sieht, was man weiß oder zu wissen glaubt. Ich denke, bei Kunstwerken ist das auch der Fall. Man steht vor ihnen und sieht nur, was man weiß. Oft bräuchte man nur einen Schritt zurückzutreten, um ein wenig mehr zu sehen und Zusammenhänge zu erkennen. Für diese Erkenntnis bin ich dankbar und ich wollte Schnabels Bilder unbedingt einmal wiedersehen.

Als ich bei dieser Ausstellung von Weitem das Scherbenbild hängen sah und sofort die Schatten eines Paares inmitten von Bäumen hineininterpretierte, eilte ich hin, um mich zu vergewissern, wollte ich diesen Moment noch einmal erleben, wie sich aus Nichtverstehen und Unverständnis plötzlich Verstehen ergibt und aus dem Abstrakten das Konkrete schält. Aber es war nicht das Bild, das ich erwartet hatte, es war überhaupt kein Bild von Julian Schnabel. Doch die wirkliche Enttäuschung lag darin: Von welcher Seite und aus welchem Abstand ich das Bild auch betrachtete, es waren nur aufgeklebte Scherben, die keinen Sinn ergaben. Und es löste nichts in mir aus, kein Verständnis, kein Erkennen, keine Empathie, keine Erinnerung, kein Bedauern, keine Freude, überhaupt kein Gefühl. Reine Dekokunst. Und wegen so eines nichtssagenden Bildes ist mir das ganze Missgeschick mit dem Schachtelturm passiert. Und die Schachteln sind auch nur leere Schachteln ohne tiefere Bedeutung, auch wenn Sie mir anderes weismachen wollen.

Es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen, aber Sie haben ein ausgesprochen schlechtes Händchen für Ausstellungen. Hinter Ihrem Rücken behaupten das alle, vor allem jene, die etwas davon verstehen, es wagt nur keiner, Ihnen das ins Gesicht zu sagen. "Die Kunst ist wirklich nicht sein Metier", sagen sie, "er sollte die Finger davon lassen. Aus dieser Firma wird kein qualitätsvolles Museum. Mit seinem vielen Geld könnte er sich auch gute Kunst kaufen, er sollte sich andere Hobbys suchen", so tönt es durch die Gänge. Mir tut das leid, wenn ich das höre, weil Sie ein qualifizierter, verständnisvoller, verantwortungsvoller und umsichtiger Arbeitgeber sind. In der Kunst aber lassen Sie sich vom Mittelmaß leiten. Und von Moden. Vielleicht tun wir das alle und vielleicht war ja tatsächlich auch Schnabel ein vom Kunstmarkt hochgespülter, überschätzter Shootingstar, als er in den 1980er Jahren nicht nur mit seinen Bildern, sondern auch mit seinem übergroßen Ego auftrumpfte. Und vielleicht repräsentieren seine "Plate-Paintings" den schwächsten Teil seiner Arbeit, wie manche Kritiker behaupten. Aber das tut eigentlich nichts zur Sache. Bevor Sie mich Ihrem Scherbengericht unterziehen, frage ich Sie nur eines: Vor welchem Kunstwerk, das Sie bislang hier ausgestellt haben, hatten Sie eine Erkenntnis, welches hat sie zutiefst berührt, welches Sie mit Freude und Begeisterung erfüllt, welches mit Scham oder Angst, welches hat sie fassungslos gemacht oder welches hat Sie einfach nur denken lassen: So habe ich das noch nie gesehen!?

Ich warte noch immer darauf, dass Sie sich von ihrer Arbeit abwenden, sich umdrehen und von Ihrem Bürostuhl, diesem wuchtigen Wurzelstock, aufstehen und sich mir zuwenden. Wie schön wäre es, wenn Sie jetzt zugeben könnten, dass Sie selber an der Qualität des Schachtelwerkes zweifeln, aber vor allem würde es mich erleichtern, wenn Sie mir nach einer ernsten Abmahnung nun doch wohlwollend unterbreiten würden, die 20.000 nicht mir anlasten zu müssen, weil Sie umfassend versichert sind. So still und geknickt und in sich versunken kenne ich Sie gar nicht, Sie wollen doch zuerst immer ein bisschen laut dröhnen, bevor Sie Gnade walten lassen. Ist es diesmal umgekehrt, bedeutet das meine Entlassung? Aber Sie sind keiner, der willentlich Porzellan zerschlägt, so gut kenne ich Sie nach Jahrzehnten Dienst in Ihrer Firma. Sie Ihrerseits kennen mich nicht so gut, haben mich nie richtig wahrgenommen, wenn ich um Ihren Schreibtisch mit meinen Putzutensilien werkte und mitunter auch leere Schachteln entsorgte. Dennoch kommt mir in diesem Moment in den Sinn, dass Schnabels aus Scherben gefertigtes Bild, welches die Ursache für mein Missgeschick war, jenes Bild, mit dem dominanten Mann im Vordergrund und der nur scheinbar ungleichberechtigten Frau, das Bild von zweien, die sich vermutlich mögen und schätzen, aber durch Geld, Werte und Konventionen voneinander getrennt sind, auch ein Porträt von uns beiden sein könnte.

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